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Theodizee – ein Aufsatz in 3 Teilen:
1. Teil: Das Problem
2. Teil: Angebliche Entbehrlichkeit von Lösungen
3. Teil: Angebliche Lösungen ________________________________________________________
Irene Nickel
Theodizee:
Problematische Lehre
vom allmächtigen und gütigen Gott
„Ich bin Gott, der Allmächtige.“
(Genesis = 1. Mose 17, 1)
„Alles, was dem Herrn gefällt, vollbringt er,
im Himmel, auf der Erde, in den Meeren, in allen Tiefen.“
(Psalm 135, 6)
„Der Herr schaut vom Himmel und sieht aller Menschen Kinder.
Von seinem festen Thron sieht er auf alle, die auf Erden wohnen.“
(Psalm 33, 13-14)
„... die Wunderwerke des Allwissenden“
(Hiob 37, 16)
„Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott ...“
(Exodus = 2. Mose 34, 6)
„Lobt den Herrn, denn der Herr ist gütig.
Singt und spielt seinem Namen, denn er ist freundlich.“
(Psalm 135, 3)
„... Vollkommen ist, was er tut; denn alle seine Wege sind recht.
Er ist ein unbeirrbar treuer Gott, er ist gerecht und gerade.“
(Deuteronomium = 5. Mose 32, 4)
Allmacht, Wissen, Güte, Gerechtigkeit, Vollkommenheit –
schon in der vorchristlichen jüdischen Religion gab es die Vorstellung,
dass Gott all diese Eigenschaften in sich vereinige.
Das Christentum übernahm diese Vorstellung
und trug viel zu ihrer Verbreitung bei.
Auch der Islam schreibt seinem Gott derartige Eigenschaften zu:
Der Koran nennt Allah „allmächtig, allweise“ und „allgütig, allwissend“
(Sure 2 Vers 209 bzw. Sure 3 Vers 73).
Mit all diesen großartigen Eigenschaften haben die Gläubigen ihren Gott
ausgestattet – und sich auf diese Weise selbst eine Falle gestellt.
Sie haben ihre Lehren einem schwerwiegenden Einwand ausgesetzt:
Bekanntlich gibt es in dieser Welt Menschen und Tiere,
die unter unerträglichen Qualen leiden.
Müsste es ihnen nicht besser gehen,
wenn es einen allmächtigen und gütigen Gott gibt?
Diesen Einwand soll schon der griechische Philosoph Epikur
(ca. 341-270 v.u.Z.) mit Überlegungen der folgenden Art 1
untermauert haben:
Warum sorgt Gott nicht dafür,
dass es diesen Menschen und Tieren besser geht?
Kann er nicht, oder will er nicht?
Wenn er nicht helfen kann, dann ist er nicht allmächtig.
Wenn er nicht helfen will, dann ist er nicht gütig.
Wenn er helfen kann und will,
warum tut er es dann nicht?
Wenn er es seit jeher kann und will,
warum hat er es nicht längst getan?
Warum hat er es dann überhaupt dazu kommen lassen,
dass es einigen Menschen und Tieren so schlecht geht?
Wer am Glauben an einen allmächtigen und zugleich gütigen Gott
festhalten will, sieht sich durch diese Überlegungen vor ein Problem
gestellt. Man nennt es das „Theodizee-Problem“.
Diese Bezeichnung geht zurück auf den Philosophen
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716);
ihm zufolge ist eine Theodizee
„die Rechtfertigung der Güte Gottes
angesichts des Leids in einer von IHM abhängigen Welt“ –
aus heutiger Sicht wohl eher
der Versuch einer Rechtfertigung des Glaubens an einen solchen Gott.
In der klassischen Form des Theodizee-Problems werden – wie hier –
Allmacht und Güte Gottes miteinander verknüpft
und den Leiden dieser Welt gegenübergestellt.
Vor ähnlichen Problemen sehen sich die Gläubigen,
wenn die Allmacht Gottes
mit anderen sympathischen Aspekten seines Charakters
verknüpft wird,
z. B. mit seiner Gerechtigkeit, seiner Liebe zu allen Menschen,
seiner Liebe zu allen, die an ihn glauben, oder mit Ähnlichem mehr. 2
An die klassische Form des Theodizee-Problems,
bei der Allmacht und Güte Gottes verknüpft werden,
werde ich mich im Folgenden halten.
Das Theodizee-Problem
als ein Beispiel
für eine Überprüfung einer Theorie
nach wissenschaftlichen Methoden
Die Lehre von der Allmacht und Güte Gottes
kann man als eine Theorie ansehen,
die – zumindest möglicherweise – nach den gleichen Methoden
überprüft werden kann
wie irgendeine wissenschaftliche Theorie.
Zur Überprüfung einer Theorie nach wissenschaftlichen Methoden
gehören vier Schritte:
1. Die Grundaussagen der Theorie
werden so exakt wie möglich formuliert.
2. Aus diesen Grundaussagen der Theorie, ihren „Prämissen“,
werden Schlussfolgerungen gezogen.
Ziel dabei ist, zu einer „Prognose“ zu gelangen,
d. h. zu einer Schlussfolgerung,
welches Ergebnis bzw. welche Ergebnisse
bei Beobachtungen der Realität zu erwarten sind,
falls die Theorie stimmt.
3. Die Beobachtungen der Realität werden durchgeführt und ausgewertet,
und die Ergebnisse werden festgestellt.
4. Man vergleicht
die Ergebnisse der Beobachtungen
mit den Ergebnissen,
die nach der Prognose zu erwarten gewesen wären.
Falls sie zueinander im Widerspruch stehen,
dann sind die Grundaussagen der Theorie als falsch erwiesen,
„falsifiziert“.
Und damit ist die ganze Theorie falsifiziert.
Für das Theodizee-Problem sehen diese vier Schritte
folgendermaßen aus:
1. Formulierung der Prämissen:
Prämisse 1 – Existenz:
„Es gibt mindestens einen Gott.“
Prämisse 2 – Allmacht:
„Dieser Gott – oder einer von diesen Göttern – ist allmächtig,
und er existierte schon immer und war schon immer allmächtig.“
Prämisse 3 – Kenntnisse:
„Seit es Menschen gibt,
weiß dieser allmächtige Gott, wie es ihnen geht.
Das Gleiche gilt für Tiere.“
Prämisse 4 – Wertschätzung von Wissen und Intelligenz:
„Dieser allmächtige Gott kennt den Wert von Wissen und Intelligenz
für die Suche nach zweckdienlichen Entscheidungen –
und diesen Wert kannte er schon immer.“
Prämisse 5 – Rationalität:
„Dieser allmächtige Gott verhält sich rational,
d. h. er orientiert sich daran, was seinen Zielen dient –
und daran orientierte er sich schon immer.“
Prämisse 6 – Güte:
„Dieser allmächtige Gott
ist sehr gütig,
er ist gütig in so hohem Maße,
dass er niemals den Vorwurf mangelnder Güte verdienen könnte –
und so gütig war er schon immer.“
Anmerkung:
Meine Formulierungen dieser Prämissen
mögen etwas umständlich erscheinen.
Ich habe sie dennoch griffigeren Formulierungen vorgezogen,
um Probleme zu vermeiden, die nichts
mit dem eigentlichen Theodizee-Problem zu tun haben. 3
Definition einer Abkürzung:
Für den Gott, um den es im Theodizee-Problem geht
und dessen Eigenschaften in den Prämissen 2–6 präzisiert sind,
möchte ich im Folgenden eine Abkürzung benutzen:
„GottTP“ – mit „TP“ für „Theodizee-Problem“.
2. Schlussfolgerungen
Zunächst wird eine Eigenschaft von GottTP festgestellt,
die viele Gläubige für selbstverständlich halten:
seine Intelligenz.
Sie kann gefolgert werden aus Existenz und Allmacht,
Prämisse 1 und 2,
sowie Rationalität und Wertschätzung von Wissen und Intelligenz,
Prämissen 5 und 4:
Schlussfolgerung 1:
„GottTP hat sich Wissen und Intelligenz verschafft,
soweit das seinen Zielen dient.
So ist er mindestens so intelligent wie ein intelligenter Mensch.“
Und nun zu Aussagen über GottTP,
die näher an das eigentliche Theodizee-Problem heranführen.
Aus Existenz und Allmacht, Prämisse 1 und 2, wird gefolgert:
Schlussfolgerung 2:
„GottTP hat – und hatte schon immer – die Möglichkeit,
Hilfe zu leisten,
wenn ein Mensch oder Tier
von schwerem Leiden betroffen ist und seine Hilfe braucht,
und Schutz zu bieten,
wenn ein Mensch oder Tier
von schwerem Leiden oder vorzeitigem Tod bedroht ist
und seinen Schutz braucht.“
Aus Existenz und Rationalität – Prämissen 1 und 5 –
und Kenntnissen und Güte – Prämissen 3 und 6 –
sowie Intelligenz – Schlussfolgerrung 1 – wird gefolgert:
Schlussfolgerung 3:
„Soweit keine schwerwiegenden Gründe dagegen sprechen,
will GottTP – und wollte schon immer –,
Hilfe leisten,
wenn ein Mensch oder Tier
von schwerem Leiden betroffen ist und seine Hilfe braucht,
und Schutz bieten,
wenn ein Mensch oder Tier
von schwerem Leiden bedroht ist und seinen Schutz braucht,
und ebenso,
wenn ein Mensch von vorzeitigem Tod bedroht ist und seinen Schutz braucht.“
Menschen vor vorzeitigem Tod zu schützen,
das ist in vielen Fällen ein Gebot der Güte:
weil Menschen gewöhnlich großen Wert darauf legen,
am Leben zu bleiben,
und bereit sind,
dafür ein erhebliches Maß an Leiden in Kauf zu nehmen.
Ob das Gleiche auch für Tiere gilt,
ist umstritten.
Dabei geht es u. a. um die Frage,
ob ein Tier wirklich den Wunsch hat,
den Tod zu vermeiden –
oder ob es nur instinktiv danach strebt,
Nahrung zu finden, Feinden zu entkommen etc.,
ohne je daran zu denken,
dass es anderenfalls sterben würde,
oder auch nur einen Begriff davon zu haben,
was sein eigener Tod bedeuten würde.
Mit den Kernfragen des Theodizee-Problems
haben diese Fragen wenig zu tun.
Der Einfachheit halber
will ich deshalb im Folgenden die Tiere unerwähnt lassen;
wie ich auch andere empfindungsfähige Wesen hier unerwähnt lasse,
z. B. reifere Ungeborene,
oder auch empfindungsfähige außerirdische Lebewesen,
die es auf irgendeinem fernen Planeten geben könnte.
„Jemand will etwas“,
das bedeutet nach allgemeiner Auffassung
mehr als nur „er wünscht es“ oder „er hält es für wünschenswert“;
es bedeutet:
„Wenn er kann, dann sorgt er dafür, dass es eintritt.“
So kann aus Schlussfolgerung 2 und 3 gefolgert werden:
Schlussfolgerung 4:
„Soweit keine schwerwiegenden Gründe dagegen sprechen,
hilft GottTP,
wenn ein Mensch von schwerem Leiden betroffen ist
und seine Hilfe braucht,
und bietet GottTP Schutz,
wenn ein Mensch
von schwerem Leiden oder vorzeitigem Tod bedroht ist
und seinen Schutz braucht.“
Das bedeutet für die Menschen:
Schlussfolgerung 5 (Prognose):
„Wenn ein Mensch
von schwerem Leiden betroffen ist und Hilfe braucht,
dann erhält er Hilfe,
soweit keine schwerwiegenden Gründe dagegen sprechen.
Und wenn ein Mensch
von schwerem Leiden oder vorzeitigem Tod bedroht ist und Schutz braucht,
dann erhält er Schutz,
soweit keine schwerwiegenden Gründe dagegen sprechen.“
3. Beobachtungen der Realität:
Es gibt Menschen,
die von schwerem Leiden betroffen sind
und Hilfe brauchen würden –
aber sie erhalten keine Hilfe.
Es gibt Menschen,
die von schwerem Leiden oder vorzeitigem Tod bedroht sind
und Schutz brauchen würden –
aber sie erhalten keinen Schutz.
In vielen dieser Fälle
hätte es keine oder nur sehr geringe Auswirkungen gehabt,
wenn den Betroffenen
das schwere Leiden erspart geblieben wäre.
Auswirkungen,
die ebenso schlimm oder schlimmer gewesen wären als dies Leiden,
hätte es nicht gegeben;
und unvermeidlich gewesen wären sie schon gar nicht.
Auswertung:
Folglich gab es in vielen dieser Fälle
keine schwerwiegenden Gründe,
die dagegen gesprochen hätten,
dass den Betroffenen
das schwere Leiden erspart worden wäre.
Und dafür hätte ein allmächtiger GottTP
ohne Weiteres sorgen können.
Er hätte Schutz bieten oder Hilfe leisten können,
ohne dass er dadurch daran gehindert worden wäre,
sich um andere Dinge zu kümmern.
Daraus folgt:
In vielen dieser Fälle hätte ein allmächtiger GottTP
keine schwerwiegenden Gründe gehabt,
weder Schutz zu bieten noch Hilfe zu leisten.
Ergebnis der Auswertung:
Es gibt Menschen,
die von schwerem Leiden betroffen sind
und Hilfe brauchen,
und die trotzdem keine Hilfe erhalten,
obwohl keine schwerwiegenden Gründe dagegen sprechen.
Und es gibt Menschen,
die von schwerem Leiden oder vorzeitigem Tod bedroht sind
und Schutz brauchen,
und die trotzdem keinen Schutz erhalten,
obwohl keine schwerwiegenden Gründe dagegen sprechen.
4. Vergleich zwischen Prognose und Beobachtungen der Realität:
Sie stehen zueinander im Widerspruch.
Das heißt, irgendetwas stimmt da nicht.
Und wenn es nicht die Schlussfolgerungen sind
und nicht die Beobachtung der Realität,
dann müssen es die Prämissen sein,
die nicht stimmen.
Dann ist die Theorie falsifiziert.
Dann ist die Lehre
vom allmächtigen und gütigen GottTP
als falsch erwiesen.
Konsequenzen
Aber ist es wirklich so?
Ist damit die Lehre
vom allmächtigen und gütigen GottTP
als falsch erwiesen?
An dieser Frage scheiden sich die Geister.
• Die einen gehen davon aus,
dass es einen allmächtigen und gütigen GottTP
nicht gibt.
So können sie das Theodizee-Problem
auf rational und ethisch vertretbare Weise lösen.
• Die anderen halten fest
am Glauben an einen allmächtigen und gütigen GottTP.
Daraus ergeben sich Probleme,
für das rationale Denken wie für das ethische Urteilen.
Welche Möglichkeiten gibt es,
wenn es einen allmächtigen und gütigen GottTP nicht gibt?
Eine ganze Reihe. Beispielsweise:
1. Es gibt überhaupt keinen Gott
2. Es gibt einen Gott, aber er ist nicht allmächtig;
er ist nicht mächtig genug, um dafür zu sorgen,
dass mehr Menschen
vor schwerem Leiden und vorzeitigem Tod bewahrt werden.
3. Es gibt einen allmächtigen Gott, aber er ist nicht sehr gütig;
er hat gar nicht den Wunsch, dafür zu sorgen,
dass mehr Menschen
vor schwerem Leiden und vorzeitigem Tod bewahrt werden.
Die 2. und die 3. Möglichkeit können einander ergänzen.
Um das Ausbleiben der göttlichen Hilfe zu erklären,
braucht man weniger Abstriche an der Macht Gottes zu machen,
wenn man nicht auf sehr großer Güte beharrt.
Ebenso braucht man weniger Abstriche an der Güte Gottes zu machen,
wenn man nicht auf seiner Allmacht beharrt.
4. Es gibt einen allmächtigen und sehr gütigen Gott,
der aber derart unwissend ist,
dass er nicht einmal weiß, wie schlecht es einigen Menschen geht,
wie dringend sie seine Hilfe gebrauchen könnten,
und der sich deshalb nicht um sie kümmert.
Diese Vorstellung wird kaum je in Betracht gezogen.
Kein Wunder, denn sie ist wenig attraktiv:
– für das rationale Denken, weil sie wenig plausibel ist, 4
– für das Gefühl, weil ein so ferner Gott
kaum ein emotionales Bedürfnis befriedigt,
– für gläubige Christen, Juden und Muslime,
weil sie ihren Gott hier gewiss nicht wiedererkennen könnten.
5. Es gibt mehrere Götter,
aber es gibt unter ihnen keine Einzelnen und keine Gruppen,
die die Macht und die Motivation hätten, dafür zu sorgen,
dass mehr Menschen
vor schwerem Leiden und vorzeitigem Tod bewahrt werden.
Interessant ist die Kombination
von einem allmächtigen Gott, dem es an Güte fehlt,
mit einem gütigen Gott, dem es an Macht fehlt.
Denn es gibt Formen des christlichen Glaubens,
in denen Gott Vater und Gott Sohn – Dogma hin, Dogma her –
psychologisch so empfunden werden.
Eine Kombination, die ich für sehr effektiv halte,
um Frömmigkeit zu stabilisieren
und etwaigen Ansätzen zur Rebellion entgegenzuwirken. 5
Alle diese Möglichkeiten haben eines gemeinsam:
Sie führen nicht zu dem Schluss,
dass alle Menschen
so viel Schutz und Hilfe erhalten müssten, wie sie brauchen.
Sie führen überhaupt nicht zu irgendeinem Schluss,
wie die Realität beschaffen sein müsste.
Darum können diese Möglichkeiten nicht in Widerspruch geraten
zu der Beobachtung,
dass es Menschen gibt, die unerträglich leiden.
Sie können – so wie sie da stehen, ohne irgendwelche Zusätze –
überhaupt nicht zu irgendeiner Beobachtung der Realität
in Widerspruch geraten.
Das heißt:
Keine dieser Möglichkeiten kann durch Fakten der Realität
widerlegt werden.
Insoweit sind alle diese Möglichkeiten rational vertretbar.
Ob unter dem Gesichtspunkt der Rationalität
eine dieser Möglichkeiten den Vorzug verdient –
oder ob es am rationalsten ist,
diese Frage offen zu lassen (Agnostizismus) –
das soll hier nicht näher erörtert werden.
Unter dem Gesichtspunkt der Ethik
ergibt sich aus keiner dieser Möglichkeiten irgendein Problem.
Denn aus keiner dieser Möglichkeiten
lässt sich irgendein ethisches Urteil herleiten,
logischerweise auch kein problematisches.
Fazit:
Für das Theodizee-Problem gibt es
eine rational und ethisch vertretbare Lösung:
Die Schlussfolgerung,
dass es einen allmächtigen und gütigen GottTP
nicht gibt.
Und die Alternative?
Gibt es eine rational und ethisch vertretbare Möglichkeit,
am Glauben an einen GottTP festzuhalten?
Wenn behauptet wird, eine Theorie sei falsifiziert worden,
dann ist es keineswegs immer irrational,
das anzuzweifeln.
Es kann vorkommen,
dass der Fehler nicht in der Theorie liegt,
sondern in der vermeintlichen Falsifikation.
Es kann vorkommen,
dass die Schlussfolgerungen aus den Prämissen der Theorie
fehlerhaft sind.
Es kann vorkommen,
dass bei den Beobachtungen der Realität
etwas falsch wahrgenommen oder falsch gedeutet wurde.
Gerade im Falle des Theodizee-Problems
sind Zweifel an der Fehlerfreiheit der Beweisführung
nicht von vornherein irrational.
Schon deshalb, weil einige der verwendeten Begriffe,
wie „Güte“ und „brauchen“,
in ihrer Bedeutung längst nicht so genau bestimmt sind,
wie das bei wissenschaftlichen Begriffen der Fall ist
oder zumindest der Fall sein sollte.
Das hat damit zu tun,
dass Feststellungen wie „jemand ist gütig“ oder „jemand braucht Hilfe“
keine reinen Tatsachenfeststellungen sind,
sondern Wertungen enthalten.
„Jemand braucht Hilfe“,
das sagen wir gewöhnlich dann,
wenn jemand sonst etwas erleben müsste,
was wir negativ bewerten.
Nicht aber, wenn wir meinen, dass Hilfe eher schadet als nützt.
Beispielsweise, wenn einem Kind die Gelegenheit entgeht,
etwas allein zu schaffen.
In welchen Fällen wir sagen, jemand sei gütig,
das hängt ebenfalls von unseren Wertungen ab.
Wenn jemand sich weigert zu helfen
und wir diese Weigerung negativ bewerten,
dann werden wir ihm vielleicht die Güte absprechen.
Nicht jedoch, wenn wir die Weigerung positiv bewerten,
wie z. B. im Fall des Kindes, das Gelegenheit erhält,
etwas allein zu schaffen.
Mit Feststellungen darüber,
unter welchen Voraussetzungen allgemeiner Art,
d. h. bei Vorliegen welcher Art von Tatsachen
wir jemanden als gütig bezeichnen,
beschreiben wir unsere Wertungen allgemeiner Art.
Aus diesen Wertungen allgemeiner Art
können Schlussfolgerungen gezogen werden
für die Wertung von einzelnen Tatbeständen.
Somit kann das Theodizee-Problem
aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden:
Das Theodizee-Problem
gewendet zur Überprüfung eines Werturteils
nach Methoden einer rationalen Ethik
In der Wissenschaft kann man eine Theorie überprüfen,
indem man aus ihren Grundaussagen nachprüfbare Prognosen herleitet
und nachprüft, ob sie eintreffen oder nicht.
Ähnlich kann man in einer rationalen Ethik
Werturteile allgemeiner Art überprüfen,
indem man daraus Werturteile für Einzelfälle herleitet
und nachprüft, ob sie akzeptabel sind oder Kritik verdienen.
Die Frage, wie etwas zu bewerten ist,
hängt oft davon ab, welche Tatsachen gegeben sind.
Wie die Amputation eines Beines zu bewerten ist,
das hängt davon ab, welche Alternativen zur Verfügung stehen.
Ob jemand zu einem Ertrinkenden ins Wasser springen sollte,
das hängt davon ab, wie die Erfolgsaussichten
eines solchen Rettungsversuchs aussehen:
Wer nicht schwimmen kann
und sich nur selbst in Gefahr bringen würde,
sollte es besser bleiben lassen.
Um Werturteile für Einzelfälle
aus einem Werturteil allgemeiner Art herzuleiten,
müssen entweder
die relevanten Tatsachen bekannt und unstrittig sein,
oder
Behauptungen über diese Tatsachen
müssen als Prämissen vorausgesetzt werden.
1 a. Prämissen
Die Prämissen 1–5 –
Existenz, Allmacht, Kenntnisse,
Wertschätzung von Wissen und Intelligenz
sowie Rationalität –
bleiben unverändert,
im Wortlaut und in der Bedeutung;
sie bleiben Tatsachenbehauptungen.
Prämisse 6 a – Güte –
bleibt zwar in ihrem Wortlaut der Prämisse 6 gleich,
wird jedoch anders aufgefasst:
Nicht mehr als Tatsachenbehauptung,
nach der der genannte Gott
gütig sei im landläufigen Sinne des Wortes.
Vielmehr als Wertung:
Dass ein allmächtiger Gott,
der diese Welt, wie sie war, ist und sein wird,
so entstehen und fortbestehen ließ –
dass ein solcher Gott
in keinem Falle den Vorwurf mangelnder Güte verdient habe.
2 a. Schlussfolgerungen
Unverändert bleiben
Schlussfolgerung 1 – zur Intelligenz
und
Schlussfolgerung 2 – zur Allmacht
Aus Existenz, Kenntnissen und Rationalität – Prämissen 1, 3 und 5 –
und Intelligenz – Schlussfolgerung 1 –
sowie aus der Güte – Prämisse 6 – wird gefolgert:
Schlussfolgerung 3 a:
„GottTP ist hochmotiviert – und war es schon immer –,
alle Menschen vor schwerem Leiden und vorzeitigem Tod zu bewahren.“
Könnte es nun sein,
dass ein GottTP von so großer Güte,
dass er „niemals den Vorwurf mangelnder Güte verdienen könnte“,
dennoch bestimmte Menschen
nicht vor schwerem Leiden oder vorzeitigem Tod bewahren wollen würde?
Nur dann,
wenn dieser GottTP einen triftigen Grund dafür hätte:
nämlich wenn es gut wäre,
sie nicht zu bewahren,
wenn es gut wäre,
dass diese Menschen schwer leiden oder vorzeitig sterben.
Dann würde GottTP deswegen keinen Vorwurf verdienen,
auch nicht den Vorwurf mangelnder Güte.
Schlussfolgerung 3 a’:
„GottTP will – und wollte schon immer –,
alle Menschen vor schwerem Leiden und vorzeitigem Tod bewahren,
außer in Fällen, in denen es gut ist,
dass bestimmte Menschen schwer leiden oder vorzeitig sterben.“
Aus Schlussfolgerung 2a und 3 a’ folgt:
Schlussfolgerung 4 a:
„Kein Mensch leidet schwer oder stirbt vorzeitig,
es sei denn, dass es gut ist,
dass dieser Mensch schwer leidet oder vorzeitig stirbt.“
Daraus folgt eine
Wertung allgemeiner Art:
Schlussfolgerung 5:
„Wenn ein Mensch schwer leidet oder vorzeitig stirbt,
dann ist das gut so.“
3. Anwendung der Wertung allgemeiner Art
auf Einzelfälle der Realität:
„Es gibt Menschen,
die unter unerträglichen Qualen leiden.
Das ist gut so.“
„Es hat den Holocaust gegeben,
den Mord an Millionen von Juden.
Dass nicht mehr Juden gerettet wurden,
das ist gut so.
Dass dieser ganze Massenmord nicht verhindert wurde,
das ist gut so.“
4. Beurteilung dieser Wertungen in Einzelfällen:
Ob diese Wertungen als akzeptabel angesehen werden können,
das sollte eigentlich keine Frage sein:
Nein,
diese Wertungen sind auf keinen Fall akzeptabel.
Das heißt:
Wenn die Schlussfolgerungen
und ihre Anwendungen auf Einzelfälle
korrekt sind,
dann ist festzustellen:
Aus der Lehre
vom allmächtigen und gütigen GottTP
folgen bestimmte Wertungen, die inakzeptabel sind –
und damit erhält man ein
ethisches Problem.
Konsequenzen
Auf rational und ethisch vertretbare Weise lösen
kann man das Theodizeeproblem
auch für den Fall,
dass man es als ein Problem von Werturteilen betrachtet:
Indem man nicht festhält an der Lehre
vom allmächtigen und gütigen GottTP.
Indem man
die Tatsachenbehauptungen der Prämissen 1–5 –
Existenz, Allmacht, Kenntnisse,
Wertschätzung von Wissen und Intelligenz
sowie Rationalität –
fallen lässt (bzw. sie sich gar nicht erst zu eigen macht)
und/oder
das Werturteil der Prämisse 6 – Güte –
fallen lässt (bzw. es sich gar nicht erst zu eigen macht).
Aber viele Menschen ziehen diese Konsequenzen nicht.
Sie halten fest an der Aussage ihres Glaubens,
es gebe einen allmächtigen und gütigen GottTP.
Eine Glaubensaussage, deren logische Konsequenz
der englische Dichter und Philosoph Alexander Pope (1688-1744)
in einem vielzitierten Gedicht in die Worte gefasst hat:
"Whatever is, is right"
Der gleiche Gedanke in deutscher Prosa:
„Was auch immer da ist, was auch immer geschieht, es ist gut so.“
Was das bedeutet, das zeigt sich,
wenn man konkrete Schlussfolgerungen daraus zieht.
Es bedeutet unter anderem:
„Dass es Menschen gibt,
die unter unerträglichen Qualen leiden,
das ist gut so.
Dass es Kriege und Pogrome gibt,
das ist gut so.
Dass es den Holocaust gegeben hat,
das ist gut so.“
Diese absurden Wertungen zeigen,
wohin es führt,
wenn man einen bestimmten Glauben
mit all seinen logischen Konsequenzen durchhalten will:
Es führt zu ethisch hochproblematischen Schlussfolgerungen,
die weit über den Bereich religiöser Dogmen hinausgehen.
Es führt zu einem
schweren ethischen Problem
für wichtige Bereiche des gesamten weltlichen Lebens.
Einige Gläubige sehen zwar dies ethische Problem,
halten es aber nicht für das ihre.
Sie streiten ab,
dass sie mit ihrem Bekenntnis
zu einem allmächtigen und sehr gütigen GottTP
etwas sagen,
was all diese konkreten Schlussfolgerungen einschließt.
Insbesondere Christen in Deutschland – und natürlich Juden –
bestreiten vehement,
dass sie mit ihrem Bekenntnis,
indirekt zwar, aber doch unzweideutig,
aussagen:
„Dass es den Holocaust gegeben hat,
das ist gut so.“
Diesen Gläubigen können wir abnehmen,
dass sie so etwas nicht sagen wollen.
Dass sie sich von derart inakzeptablen Aussagen distanzieren,
das macht sie sympathischer –
auf Kosten ihrer Glaubwürdigkeit.
Wer sich selbst widerspricht, beschädigt seine Glaubwürdigkeit.
Das gilt hier wie vor Gericht.
Wer sich selbst widerspricht, wird unberechenbar:
Wann wird er sich an das eine halten, wann an das andere?
Muss etwas die Gefühle in so eindringlicher Weise ansprechen
wie Mord und Völkermord,
damit diese Gläubigen davor zurückschrecken,
mit unerbittlicher Konsequenz ihrer religiösen Dogmatik zu folgen?
Oder finden sie sich auch in weniger spektakulären Fragen bereit,
nach menschlichen Maßstäben zu urteilen?
Tatsächlich urteilen diese Gläubigen
in vielen Fragen recht unterschiedlich.
Vor allem da, wo sie ihren Glauben an einen sehr gütigen Gott
mit bestimmten Vorstellungen verbinden,
welches menschliche Verhalten dieser Gott will.
Ob es um Wiederheirat von Geschiedenen geht,
um Sexualverhalten im Allgemeinen
oder um Homosexualität im Besonderen,
um Verhütung von ungewollten Schwangerschaften
oder von AIDS-Infektionen,
um Abtreibung, um therapeutisches Klonen oder um Sterbehilfe –
heutzutage gehen die Meinungen weit auseinander,
auch unter Gläubigen,
welche Schlussfolgerungen man aus einigen der Gebote ziehen soll,
die in Heiligen Schriften wie der Bibel verkündet werden
oder in Religionsgemeinschaften wie der Katholischen Kirche.
Es gibt die einen,
bei denen menschliches Mitgefühl
und die humanen Aspekte der von Europa geprägten Kultur
stark genug sind,
um zumindest bestimmte Gebote abzulehnen.
Und es gibt andere,
für die kann ein religiöses Gebot noch so menschenfeindlich sein,
sie lassen sich dazu verleiten,
all das gutzuheißen,
was ihr angeblich so gütiger Gott angeblich will.
Konsequenz oder Inkonsequenz?
Den problematischen Schlussfolgerungen aus einer Glaubenslehre
durch Inkonsequenz auszuweichen,
wie soeben beschrieben,
das ist immerhin noch besser,
als auf einem einmal eingeschlagenen Weg
auch dann unbeirrbar weiterzugehen,
wenn er zu offensichtlich absurden
und hochproblematischen Konsequenzen führt.
Befriedigend ist es jedoch nicht.
Die logischen Konsequenzen der eigenen Glaubenslehren
zur Kenntnis zu nehmen und ernst zu nehmen,
ist eine Frage der intellektuellen Redlichkeit.
Was scheinbar so harmlos als religiöses Dogma beginnt,
die Lehre vom allmächtigen und gütigen GottTP,
das führte in der logischen Konsequenz zu der Feststellung:
„Was auch immer da ist, was auch immer geschieht, es ist gut so.“
Das hat weitere problematische Konsequenzen.
Mit welchem Recht bestrafen wir einen Mörder oder Folterer,
wenn alles, was geschieht, gut ist,
logischerweise auch ein Mord, auch eine Folterung?
Der gesamten Strafjustiz
wäre die Rechtfertigung entzogen.
Ähnlich die gesamte Ethik.
Zum Wesen der Ethik gehört,
dass ethische Forderungen damit begründet werden,
dass es gut ist, wenn die Forderungen erfüllt werden.
Diese Begründung entfällt,
wenn es ebenfalls gut ist, wenn die Forderungen nicht erfüllt werden.
Und das wäre es,
wenn alles, was tatsächlich geschieht, gut wäre.
Das heißt:
Jeder ethischen Forderung wäre die Grundlage entzogen.
Deshalb würde nicht gleich das Chaos ausbrechen.
Verhaltensnormen könnte es trotzdem geben,
staatliche Gesetze, religiöse Gebote
und die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln
des sozialen Umfelds.
Und diese Verhaltensnormen könnten trotzdem befolgt werden:
aus Gewohnheit,
weil man es so gelernt hat,
weil man es nicht anders kennt,
weil es im eigenen Interesse liegt,
weil man einem geliebten Menschen helfen
oder ihm eine Freude machen will,
weil man anerkannt und geliebt werden möchte,
weil man sich anderenfalls
der Missbilligung seiner Mitmenschen aussetzen würde
oder gar der Strafe Gottes oder einer Strafe durch staatliche Gerichte ...
Motive, die großenteils weniger mit Ethik zu tun haben
als mit Opportunismus.
Das birgt eine Gefahr:
Verhaltensnormen dieser Art bieten keine Gewähr dafür,
dass das, was sie fordern, etwas Gutes sein müsste.
Dass es bei weltlichen Gesetzen vorkommen kann,
dass sie die schlimmsten Verbrechen fordern,
das hat die Nazizeit eindrucksvoll vor Augen geführt.
Ebenso gescheitert sind damals
die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln
des sozialen Umfelds.
Und was religiöse Gebote angeht,
hier nur dies eine Beispiel:
„Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen.“
(Exodus = 2. Mose 22, 17, zitiert nach der Einheitsübersetzung)
(mehr in „Die Bibel – ein inhumanes Buch“)
Nicht ohne Grund meinte der amerikanische Physik-Nobelpreisträger
Steven Weinberg:
Religion hat manches Gute in der Welt bewirkt,
aber insgesamt sind ihre Folgen furchtbar.
Meine persönliche Ansicht ist:
Mit oder ohne Religion werden sich gute Menschen gut verhalten
und schlechte Menschen werden Böses tun.
Doch der Beitrag der Religion in der Geschichte war,
es guten Menschen zu erlauben, Böses zu tun.
(aus: "Bild der Wissenschaft" 12/1999)
Diese Probleme müssen nicht in diesem Maße akut werden.
Denn man kann bessere weltliche Gesetze machen
und Heilige Schriften so interpretieren und/oder ergänzen,
dass der Mensch als Bürger und als Anhänger einer Religion
sich nicht mehr zu Verbrechen aufgefordert sieht,
sondern zur Unterlassung von Verbrechen.
Das ist wichtig genug.
Und darüber hinaus können Verhaltensnormen
zu allerlei wünschenswerten Verhaltensweisen auffordern.
Verhaltensnormen können freilich nur so viel bewirken,
wie Menschen sich motivieren lassen, tatsächlich zu tun.
So spielt die Motivation eine entscheidende Rolle für das Verhalten.
Vor allem bei Normen allgemeiner Art,
wie am Beispiel des Gebots der Nächstenliebe zu beobachten ist:
Das wird bekanntlich von den meisten Christen
in ihrer alltäglichen Praxis so interpretiert,
als hieße es nicht:
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“,
sondern:
„Du sollst deinen Nächsten lieben, soweit es dich nicht zu viel kostet.“
Eine starke Motivation kann in der Überzeugung bestehen,
etwas sei sehr schlimm und bedürfe dringend der Veränderung –
aber wie kann etwas sehr schlimm sein,
wenn doch alles gut ist,
was geschehen ist und was geschieht,
weil ein allmächtiger und gütiger GottTP dafür gesorgt hat?
Wie kann jemand es dann für dringend notwendig halten,
bestimmte Aufgaben in Angriff zu nehmen?
Eine starke Motivation kann in der Überzeugung bestehen,
das es wichtig sei,
welche Ergebnisse das eigene Tun und Lassen hervorbringt –
aber wie kann das wichtig sein,
wenn es auf jeden Fall gute Ergebnisse sein werden,
weil es, wie man meint, einen GottTP gibt,
der schon dafür sorgen wird?
Wie kann ein Mensch dann noch
sich für die Ergebnisse seines Tuns und Lassens
verantwortlich fühlen?
Die Motivation um der Sache selbst willen
kann weitgehend verloren gehen,
wenn jemand mit allen Konsequenzen
an die Existenz eines allmächtigen und gütigen GottesTP glaubt.
Kein gleichwertiger Ersatz
ist die Motivation eines Menschen,
der sich nur folgsam an bestimmte Normen hält,
um gut dazustehen vor dem Urteil einer wichtigen Instanz,
seines Gottes, seines Priesters, seines staatlichen Richters,
seiner Angehörigen, seiner Nachbarn, seiner Kollegen,
all der Menschen seines sozialen Umfelds.
Kein gleichwertiger Ersatz
ist die Erwartung von Lohn oder die Furcht vor Strafe.
Wenn jemand vor allem am „Tauschwert“ seines Wohlverhaltens
interessiert ist,
dann können Quantität und Qualität
seines Engagements für erstrebenswerte Ziele
darunter leiden.
Quantität,
weil er in Versuchung gerät, Normen so zu deuten,
dass es leicht wird, ihnen zu genügen.
Qualität,
weil er in Versuchung gerät,
sich mehr an festgelegten Verhaltensregeln zu orientieren
als daran, welchen Zielen diese Verhaltensregeln dienen sollen.
Weil er sich dann vielleicht damit begnügt, die Regeln einzuhalten,
beispielsweise Almosen zu verteilen,
anstatt kreativ zu werden und nach besseren Möglichkeiten zu suchen,
beispielsweise etwas gegen die Zustände zu tun,
die Armut hervorbringen.
So werden bei der Verfolgung von erstrebenswerten Zielen
die Ergebnisse nicht selten zu wünschen übrig lassen.
Auch die Freude an guten Ergebnissen
und das befriedigende Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben,
werden nicht die gleichen sein,
wie wenn ein Mensch um der Sache selbst willen
an möglichst guten Ergebnissen interessiert ist.
Sich verantwortlich zu fühlen
für die Folgen des eigenen Tuns und Lassens,
das gehört zu den Grundlagen von Selbstachtung und Menschenwürde.
Der Mangel an Verantwortungsbewusstsein
für die Folgen des eigenen Handelns
kann erschreckende Formen annehmen.
Über den Jesuiten Gustav Gundlach schreibt Karlheinz Deschner:
„Selbst wenn die Welt durch einen Atomkrieg unterginge,
würde das wenig bedeuten. ‘Denn’, wie der Jesuit schreibt,
‘wir haben erstens sichere Gewissheit, dass die Welt nicht ewig
dauert, und zweitens haben wir nicht die Verantwortung
für das Ende der Welt. Wir können dann sagen,
dass Gott der Herr, der uns durch seine Vorsehung
in eine solche Situation hineingeführt hat oder hineinkommen ließ,
wo wir dieses Treuebekenntnis zu einer Ordnung ablegen müssen,
dann auch die Verantwortung übernimmt.’“
(„Abermals krähte der Hahn“,
Seite 656 im Taschenbuch von Moewig)
Ein konsequent zu Ende gedachter Glaube
an einen allmächtigen und gütigen GottTP
lässt die Folgen des eigenen Tuns und Lassens unwichtig werden;
was sich negativ auswirken kann
auf Motivation, Freude an Erfolgen und Verantwortungsbewusstsein.
Negative Auswirkungen, die dort eintreten können,
wo dieser Glaube konsequent zu Ende gedacht wird.
Das wird er oft nicht.
Viele Gläubige halten ein,
bevor sie zu allzu problematischen Schlussfolgerungen gelangen.
Ihr theoretisches Denken über die Welt
mögen sie von ihrem Glauben bestimmen lassen;
in ihrem lebenspraktischen Denken und Fühlen jedoch
unterscheiden viele sich kaum von anderen Menschen.
Aus diesen Gründen –
weil der Glaube an einen GottTP nicht zu Ende gedacht wird
und nicht das gesamte Denken und Fühlen bestimmt –
sind die negativen Auswirkungen dieses Glaubens
oft gering oder bleiben ganz aus.
Das ist nicht diesem Glauben zu verdanken.
Zu verdanken ist es dem menschlichen Charakter der Gläubigen,
ihren menschlichen Schwächen und Stärken:
ihrer Inkonsequenz,
die als Schwäche angesehen werden kann
und doch besser ist Konsequenz um jeden Preis;
vor allem aber ihrer Stärke:
ihrem Mitgefühl,
das einfach nicht zulässt,
angesichts all des Leidens in dieser Welt
zu meinen, alles wäre gut.
Wie gehen Gläubige mit dem Theodizee-Problem um?
Wie rechtfertigen Gläubige,
die das Theodizee-Problem kennen,
vor sich selbst ihr Festhalten am Glauben
an einen allmächtigen und gütigen GottTP?
Sie beschreiten zwei Wege:
Sie suchen nach Lösungen,
nach einem guten Sinn in den Leiden in dieser Welt –
oder sie erklären, eine Lösung sei nicht erforderlich.
Wie Gläubige dabei vorgehen,
dazu mehr im 2. und 3. Teil meines Aufsatzes:
2. Teil: Angebliche Entbehrlichkeit von Lösungen
3. Teil: Angebliche Lösungen
Braunschweig, den 13. Juni 2005
Irene Nickel
Überarbeitet im Januar 2010.
Seitdem werden Annahmen über Eigenschaften Gottes,
die für gewöhnlich implizit vorausgesetzt werden,
ausdrücklich angeführt:
in Prämisse 4 – Wertschätzung von Wissen und Intelligenz –
und in Prämisse 5 – Rationalität im Sinne von zweckdienlichem Verhalten.
Außerdem habe ich präzisere und weniger weitgehende Schlussfolgerungen
aus der jetzigen Prämisse 6 – Güte – gezogen.
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