Bewertungen
Ich mag es befremdlich finden,
wenn biblische Vorstellungen aus vergangenen Jahrtausenden
wie Tatsachen präsentiert werden.
Ein weit größeres Problem
sehe ich jedoch darin,
wie bestimmte Bewertungen von Verhalten
kritiklos aus der Bibel übernommen werden.
Helden der Bibel – manchmal alles andere als vorbildlich
Wenn in der Bibel steht: „Gott will es so“,
dann ist damit gesagt: „Es ist gut so.“
In der Bibel wird dies gewöhnlich 4 als selbstverständlich vorausgesetzt,
und in der religiösen Unterweisung von Kindern
wird es gewöhnlich als eine Selbstverständlichkeit vermittelt.
Wenn in der Bibel ein Mensch im Auftrag Gottes handelt,
dann ist klar, dass sein Verhalten dort positiv bewertet wird.
Ebenso, wenn sein Verhalten ausdrücklich gelobt und/oder belohnt wird.
Ein deutlicher Hinweis auf eine positive Bewertung kann es sein,
wenn erklärt wird, dass jemand sich der Unterstützung Gottes erfreue.
Aber auch ohne ausdrückliche Bewertungen
wird der Leser oder Hörer von biblischen Geschichten
vielfach keine Zweifel haben.
Wenn von bestimmten Helden der Bibel die Rede ist,
etwa von Abraham, Mose, Josua, David, Elia oder Jesus,
dann genügt das oft,
um den Eindruck zu vermitteln:
Was diese Helden der Bibel sagen oder tun,
das ist – soweit es keinen Hinweis auf das Gegenteil gibt –
nach den Maßstäben der Bibel in Ordnung so.
Erzählt man Kindern davon
und gibt man dazu keinerlei kritischen Kommentar,
dann ist zu erwarten, dass viele den Eindruck gewinnen:
Was der Held der Erzählung gesagt oder getan hat,
das ist in Ordnung so.
Der Angriffskrieg unter Josua
Von diesem Angriffskrieg wird in vier meiner Kinderbibeln erzählt:
Nr. 4, Nr. 6, Nr. 7 und Nr. 8.
Dass dieser Angriffskrieg
in Massenmorde an der Bevölkerung der eroberten Städte mündete,
wird nicht eindeutig ausgesprochen,
es heißt nur beispielsweise:
„Nur Rahab und ihre Familie wurden verschont.“ (Nr. 4, S. 136)
Aber dass es sich um einen Angriffskrieg handelt,
das ist aus den mitgeteilten Geschehnissen klar erkennbar.
Ein Angriffskrieg ist schlimm genug.
Aber selbst bei Margot Käßmann,
die doch so vielbeachtete Worte zum Afghanistan-Krieg gefunden hat,
liest man zum Angriffskrieg unter Josua
nicht den geringsten kritischen Kommentar. (Nr. 6, S. 42)
In allen vier Kinderbibeln wird darauf hingewiesen,
dass Josua auf Anweisungen von Gott hin handelte.
Sollen Kinder lernen:
„Ein Angriffskrieg ist in Ordnung,
wenn ein bestimmter Gott dazu aufruft“ ?
Das wäre auf keinen Fall im Sinne einer Erziehung
zu einem wachen und unbestechlichen Gerechtigkeitssinn.
Der Angriffskrieg unter Josua – eine Ergänzung:
Bemerkenswert fand ich die Art, wie Anne de Vries
in seiner 5 Kinderbibel (Nr. 8)
an die Geschichte von diesem Krieg heranführt.
Da heißt es zunächst auf Seite 80:
„Dort hinter den Bergen, dort lag Kanaan.
Dort würden sie bald wohnen. ...
Ja, aber sie wohnten noch nicht dort.
Es wohnten nämlich andere Menschen in Kanaan,
die nichts von Gott wussten,
und die mussten erst einmal vertrieben werden.“
Sie „mussten“ vertrieben werden?
Sie hätten überhaupt nicht vertrieben werden dürfen!
Auch wenn ein Angriffskrieg „nur“ eine Vertreibung zum Ziel gehabt hätte,
wäre er immer noch ein schweres Unrecht gewesen.
Und dass die Menschen in Kanaan „nichts von Gott wussten“ –
wenn das eine Rechtfertigung für eine Vertreibung sein soll,
dann widerspricht das jeder akzeptablen Auffassung von Gerechtigkeit,
zu schweigen von Toleranz.
Auf Seite 84 sind die Menschen in Kanaan dann auch noch „feindselig“.
Nanu! Wer ist hier feinselig?
Die Menschen in Kanaan oder die angreifenden Israeliten?
Auf Seite 88 wiederholt Anne de Vries seine dreiste Verdrehung.
In Anschluss an die Eroberung von Jericho schreibt er:
„Von all den feindseligen Bewohnern der Stadt
ist dann auch nicht einer übrig geblieben.“
Wie dabei die Worte „nicht einer übrig geblieben“ zu verstehen sind,
das bleibt wohl dem Leser überlassen:
Soll es bedeuten: „nicht einer am Leben geblieben“,
was mit der Geschichte in der Bibel übereinstimmen würde?
Oder soll es ein halbherziger Versuch sein,
den Massenmord zu verschleiern
und den Eindruck zu erwecken, es handle sich „nur“ um eine Vertreibung?
Die Beinahe-Opferung Isaaks durch seinen eigenen Vater
Diese bestürzende Geschichte
kommt in drei meiner Kinderbibeln vor: Nr. 5, Nr. 7 und Nr. 8:
Auf Gottes Befehl hin soll Abraham sich bereitgefunden haben,
ihm seinen geliebten einzigen Sohn Isaak
zum Brandopfer zu bringen.
Es soll nicht dazu gekommen sein,
weil Gott am Ende Einhalt geboten haben soll.
Es genügte ihm, dass Abraham zu dem Opfer bereit war,
und er würdigte das mit einem reichen Segen
für Abraham und seine Nachkommen.
(Genesis = 1. Mose 22)
Eigentlich müsste es jedem ins Auge springen:
Es ist ganz und gar nicht gut,
wenn ein Vater sich bereit findet,
auf den vermeintlichen Befehl eines Gottes hin
sein eigenes Kind zu töten!
Im Alltagsleben wissen wir das auch genau:
Das Recht eines Kindes auf Leben
muss Vorrang haben vor allen religiösen Motiven seiner Eltern.
Und im Alltagsleben richten wir uns auch danach.
Wenn es Zeugen Jehovas einfällt,
aus religiösen Gründen die Einwilligung
zu einer lebensrettenden Bluttransfusion für ihr Kind zu verweigern,
dann lassen wir ihnen nicht ihren Willen,
sondern retten das Kind.
Aber bei dieser Geschichte von Abraham
scheint bei nicht wenigen Christen
der Sinn für Falsch oder Richtig zu versagen.
Die positive Bewertung der Bereitschaft zur Kindestötung
wird in allen drei Kinderbibeln
ohne jeden kritischen Kommentar übernommen.
Wie kommt das? Vielleicht lassen sich viele dadurch beruhigen,
dass es am Ende doch nicht zur Kindestötung gekommen ist.
Ich habe sogar schon eine Interpretation gelesen,
nach der Abraham, vielleicht unbewusst,
genau darauf spekuliert haben soll.
Was allerdings heißen würde,
dass Gott darauf hereingefallen wäre
und eine Bereitschaft zur Kindestötung gelobt hätte,
die gar nicht wirklich da war – eine merkwürdige Theologie.
Abgesehen davon, ändert sich dadurch nichts daran,
dass das, was da eine positive Bewertung erfährt,
nichts anderes ist als die Bereitschaft zur Kindestötung.
Ist es das, was Kinder lernen sollen?
Dass Bereitschaft zur Kindestötung in Ordnung ginge,
wenn ein bestimmter Gott es befiehlt?
Sodass auch die Kindestötung in Ordnung wäre,
wenn dieser Gott es befiehlt?
Das wäre nicht im Sinne einer Erziehung
zu einem unbestechlichen Sinn für Gut und Böse.
Und doch wird genau das in den drei Kinderbibeln nahegelegt.
Indem die positive Bewertung der Bereitschaft zur Kindestötung
kritiklos übernommen wird.
Bei Anne de Vries heißt es sogar:
„Wenn Gott etwas sagt, dann ist es immer gut.
Dann muss man gehorchen,
auch wenn man nichts davon begreift
und deswegen auch noch so großen Kummer hat.“
(Nr. 8, S. 33, kursiv von Anne de Vries)
Ich stelle mir ein Kind vor, das diese Worte hört.
Kann es nicht Angst bekommen,
dass auch sein eigener Vater „gehorchen“ würde,
falls er einen ähnlichen Befehl erhält wie Abraham?
Regelrecht gefährlich kann es werden,
wenn ein Kind meint, Gott hätte ihm geboten,
einem Familienmitglied etwas anzutun.
Es kann ja immer einmal sein,
dass ein Kind so etwas träumt;
dass sich Aggressionen,
wie sie wohl im Innern eines jeden Kindes einmal vorkommen,
mit Geschichten mischen, die es gehört hat.
Besser, man setzt Kindern gar nicht die Idee in den Kopf,
dass sie vielleicht einmal etwas sehr Schlimmes tun „müssten“.
Oder man lehrt sie ein gesundes Misstrauen
gegenüber Träumen, Stimmen und dergleichen.
Schon Martin Luthers Vater soll es einmal so gemacht haben;
zu seinem Sohn soll er gesagt haben:
„Woher weißt du, dass es die Stimme Gottes war?
Woher weißt du, ob es nicht die Stimme des Teufels war?“
Jesus und die syrophönizische Frau
Jesus nimmt unter den menschlichen Helden der Bibel
eine Sonderstellung ein:
Bei allen anderen muss man damit rechnen,
dass sie vielleicht einmal etwas tun,
wofür sie in der Bibel getadelt werden;
ich denke an Davids Ehebruch mit Batseba
und seinen Mord an ihrem Ehemann Uria (2. Samuel 11–12).
Von Jesus aber heißt es in der Bibel,
er sei „ohne Sünde“ (1. Johannes 3,5) .
Um so schlimmer, wenn ausgerechnet dieser Jesus
sich alles andere als vorbildlich verhält.
Wie in der Begegnung
mit einer syrophönizischen – auch: „kanaanäischen“ – Frau.
(Markus 7,24 ff.; auch: Matthäus 15,21 ff.)
Diese Geschichte habe ich nur in einer meiner 9 Kinderbibeln gefunden:
in der Neukirchener Kinder-Bibel. (Nr. 7, S. 199 f.)
Dort wird zunächst geschildert,
wie die Tochter der syrophönizischen Frau
von einem Anfallsleiden gequält wurde
und welchen Kummer das der Mutter bereitete.
Und wie diese Frau besorgt war,
dass Jesus ihre Bitte um Hilfe für ihre Tochter abweisen könnte,
weil sie „zu den Heiden gehörte“.
Jesu Antwort auf die verzweifelte Bitte der Frau
wird im Wesentlichen bibelgetreu zitiert:
„Erst brauchen die anderen Hilfe.
Es ist nicht recht, wenn man den Kindern das Brot wegnimmt
und wirft es vor die Hunde.“
Wie beleidigend diese Antwort ist,
wird nicht verschwiegen, sondern sogar verdeutlicht:
Es heißt, die Frau habe sich gefragt,
ob ihre Tochter denn in den Augen Jesu
nur so viel wert wäre wie ein Hund.
Eigentlich müsste damit auch klar sein,
welch eine Demütigung diese Frau akzeptieren musste,
um doch noch Hilfe für ihre Tochter zu bekommen.
Trotzdem fehlt jeder kritische Kommentar zum Verhalten Jesu.
Es scheint nicht zu zählen, dass da eine heidnische Frau
ohne jede Notwendigkeit gedemütigt worden ist.
Selbst wenn Jesus ihre Bitte abweisen wollte,
hätte er das weniger beleidigend formulieren können.
In dieser Kinderbibel wird nichts unternommen,
um Kinder darauf aufmerksam zu machen,
dass sie sich Jesu Verhalten in dieser Geschichte
besser nicht zum Vorbild nehmen sollten.
Jesus randaliert im Tempelbereich
Von Jesus,
wie er Händler und Geldwechsler aus dem Vorhof des Tempels
vertrieben haben soll, und wie er die Tische der Geldwechsler
und die Stände der Taubenhändler umgestoßen haben soll,
erzählen vier meiner neun Kinderbibeln.
Jesu Zornesausbruch wird damit erklärt,
dass ihm das unruhige Treiben der Händler und Geldwechsler
ganz und gar nicht zur Bestimmung dieses Ortes zu passen schien.
„Mein Haus soll ein Bethaus sein“,
so berief sich Jesus auf die „Schrift“ (Jesaja 56,7).
„Ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht!“, schimpfte er.
Jesu Zorn mag verständlich sein.
Und auch seine Überzeugung, dass Gott es ebenso sehen würde.
Aber durfte er deshalb
auf Händler und Geldwechsler losgehen,
die, sicherlich mit Erlaubnis der zuständigen Autoritäten,
friedlich ihren Geschäften nachgingen?
Anzeichen dafür, dass jemand ein Problem darin gesehen hätte,
habe ich in keiner meiner Kinderbibeln gefunden.
Stattdessen unter anderem eine fast schon genüssliche Darstellung der Szene in Die große Ravensburger Kinderbibel.
Besonders das Bild lässt an Dramatik kaum zu wünschen übrig:
Jesus schwingt eine Geißel,
Tische fallen mit abbrechenden Beinen eine Treppe herunter,
sogar ein Mensch ist auf die Treppe gestürzt.
Erkennbar gutgeheißen wird Jesu Verhalten
in der Neukirchener Kinder-Bibel
durch die Überschrift „Jesus räumt auf“.
Missbilligt wird damit logischerweise
die Empörung der Priester:
„Unerhört!“, sollen sie gemurmelt haben.
„Wie sich Jesus aufführt!
Als ob er der Herr im Tempel sei!
Wer hat ihm das erlaubt?“
Eine sehr berechtigte Frage.
Tieropfer im Tempel gehörten zur traditionellen Religionsausübung,
und ebenso der dazugehörige Verkauf von makellosen Opfertieren.
Jesu Angriff auf die Geldwechsler und Händler
war nicht nur ein Angriff auf das Hausrecht der zuständigen Autoritäten,
es war auch ein Angriff auf die Freiheit von Priestern und Gläubigen,
ihre Religionsausübung in ihrem Heiligtum so zu gestalten,
wie sie das für richtig hielten.
Was wäre, wenn jeder meinen würde,
er dürfte seine Vorstellungen von „richtiger“ Religionsausübung
mit Gewalt durchsetzen?
Wenn man Kinder schon auf den Gedanken bringt,
dass jemand so etwas tun könnte,
dann sollte man ihnen auch deutlich machen:
So geht es nicht!
Eine religiöse Überzeugung
gibt keinem Menschen ein Recht,
die Rechte anderer Menschen zu verletzen.
Sonstige potentielle Vorbilder in Kinderbibeln
Jesus und die Kinder
Ein Bild in Die große Ravensburger Kinderbibel (Nr. 5),
das Jesus in engem körperlichen Kontakt mit Kindern zeigt,
sehe ich mit einigem Unbehagen.
Auf diesem Bild
hält Jesus ein Kind auf dem Schoß,
und um ein weiteres Kind hat er seinen Arm gelegt.
Kinder sollten aber besser nicht ermuntert werden,
sich in so engen körperlichen Kontakt zu fremden Männern zu begeben.
Die Missbrauchsfälle, die in den letzten Jahren bekannt wurden,
sollten Eltern und Erziehenden zur Warnung dienen.
Damit will ich keineswegs andeuten,
dass Jesus persönlich Kindesmissbrauch begangen hätte.
Es gibt keinen Grund zu der Annahme,
dass Jesus mehr getan hätte
als das, was im Evangelium nach Markus zu lesen ist:
„Und er nahm sie in seine Arme,
legte die Hände auf sie und segnete sie.“ (Markus 10,16)
An dieser Stelle interessiert mich weniger,
ob Jesus damit ein schlechtes Vorbild für heutige Männer und Frauen ist:
Männer und Frauen, die darauf achten sollten,
dass Kindern keine Körperkontakte aufgedrängt werden.
An dieser Stelle interessiert mich,
ob die in den Kinderbibeln dargestellten Kinder
sich als Vorbild für heutige Kinder eignen.
Hier die Fakten.
Die Geschichte kommt in 5 meiner 9 Kinderbibeln vor:
– ganz ohne Bild in Nr. 8,
– auf dem Bild nur Kinder in Nr. 6,
– auf dem Bild nur Jesus in Nr. 7,
– auf dem Bild legt Jesus einem Kind
nur die Hand auf die Schulter in Nr. 1;
– und der erwähnte enge körperliche Kontakt zwischen Jesus und Kindern
ist nur auf einem Bild zu sehen: in Nr. 5.
Eine weitere Kinderbibel zeigt zwei Bilder mit Jesus und Kindern:
– ein Bild vorn auf dem Einband,
ohne Körperkontakt zwischen Jesus und Kindern,
– sowie ein weiteres,
auf dem Jesus zwei Kindern eine Hand auf die Schulter legt. (Nr. 3)
Insgesamt war die Zeichnung in Nr. 5 das einzige Bild,
bei dem ich Anlass zu Unbehagen gesehen habe.
Im Text
werden Jesu Umarmungen in 4 von 5 Kinderbibeln erwähnt.
Bei Anne de Vries allerdings in einer Weise, die mir Unbehagen bereitete:
„Das war herrlich! . . . Die Kinder liefen fröhlich zu Jesus.
Sie hatten ihn vielleicht noch nie gesehen,
aber sie hatten trotzdem keine Angst.
Sie stellten sich zu ihm und er zog sie an sich.
Er legte seine Arme um die Kinder ...“
(Nr. 8, S. 197;
die Auslassungspunkte in der ersten Zeile sind von Anne de Vries)
Religiöse Intoleranz
Mose und das Goldene Kalb
Die Bibel erzählt im Buch Exodus = 2. Mose 32:
Von Mose für vierzig Tage und Nächte allein gelassen,
soll das Volk Israel bald darauf verfallen sein,
sich einen neuen Gott machen zu lassen.
Gold wurde gesammelt und zu einem Kalb geformt,
das dann als Gott angebetet und gefeiert wurde.
Voller Zorn soll Gott angekündigt haben, das Volk zu vernichten,
aber Mose soll es gelungen sein, ihn umzustimmen.
Als Mose jedoch zum Volk zurückkehrte,
packte ihn selbst der Zorn.
Er zerstörte das goldene Kalb,
und schließlich sammelte er seine Anhänger um sich
zu einem angeblich gottgewollten Massaker,
dem dreitausend Mann zum Opfer gefallen sein sollen.
In vier meiner neun Kinderbibeln
wird diese Geschichte erzählt, Nr. 4, Nr. 5, Nr. 7 und Nr. 8.
Jedes Mal ohne das Massaker.
Die Zerstörung des Goldenen Kalbs
wird jedoch in zwei Kinderbibeln beschrieben, Nr. 7 und Nr. 8.
In einer Weise, als wäre das in Ordnung so.
Als wäre es nicht bedenklich,
solches Gedankengut ohne kritischen Kommentar
an Kinder heranzutragen.
Gedankengut, das in krassem Gegensatz
zu wichtigen Zielen heutiger Erziehung steht:
Toleranz und Achtung der Menschenrechte,
nicht zuletzt des Rechts auf Religionsfreiheit.
Gläubige müssen akzeptieren,
dass ihre religiösen Überzeugungen
für andere Menschen nicht maßgeblich sind.
Sie haben das Recht anderer Menschen zu respektieren,
die Religion ihrer Wahl auszuüben.
Das heißt unter anderem:
Die Zerstörung von Kultgegenständen einer anderen Religion
ist ein Unrecht.
Gleichsetzung von religiösen und anderen Bewertungen
Für ein respektvolles Miteinander
von Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen zu Religionen
ist es wichtig, dass zwei Fragen sauber auseinandergehalten werden:
Was verstößt gegen religiöse Gebote?
Und was ist aus anderen Gründen abzulehnen,
insbesondere aus ethischen Gründen?
Doch das krasse Gegenteil dieser Unterscheidung
fand ich in der Kinderbibel von Anne de Vries (Nr. 8).
Immer wieder werden dort religiöse Bewertungen
in Bewertungen anderer Art umgemünzt,
vor allem in ethische Bewertungen.
„Die dummen Menschen!“,
heißt es etwa in der Geschichte vom Goldenen Kalb
zur Forderung des Volkes nach einem neuen Gott.
Und weiter: „Sie sagten dann noch viel Dummes und Verwerfliches.“
Mehrfach wird in dieser Geschichte
das Volk für seine religiöse Abweichung als „schlecht“ beschimpft.
Die gleiche Beschimpfung wird in dieser Kinderbibel
auch gegen andere Menschen gerichtet:
„Weil die Menschen so schlecht geworden sind
und nicht mehr auf ihn [Gott] hören wollen“,
heißt es, und:
„Sie taten so, als gäbe es überhaupt keinen Gott,
als könnten sie tun, was sie wollten.“
(Nr. 8, S. 17 bzw. S. 16)
Hier werden üble Vorurteile nahegelegt:
Als wären Menschen ohne Gott schon deshalb „schlecht“,
und als würden sie „tun, was sie wollen“
im Sinne von „sich an keine Regeln halten“. 6
Das ist das Gegenteil einer guten Vorbereitung
auf das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft,
in der die Kinder auf Menschen mit den verschiedensten
religiösen und nichtreligiösen Überzeugungen treffen werden,
und in der sie imstande sein sollten,
fair und vorurteilsfrei mit diesen Menschen umzugehen.
Von der Kinderbibel von Anne de Vries kann ich nur dringend abraten.
Elia, Ahab und die Propheten des Baal
Die Bibel erzählt im Buch 1. Könige 16–18:
Ahab, ein König von Israel,
förderte den Kult des Baal und betete ihn an.
Gottes Reaktion:
Er ließ Ahab durch den Propheten Elia
eine schwere Dürre ankündigen.
Im dritten Jahr dieser Dürre schickte Gott Elia erneut zu Ahab.
Der sagte zu Elia: „Bist du nun da, der Israel ins Unglück stürzt?“
Elia jedoch erwiderte, dass Ahab selbst es sei,
der Israel ins Unglück stürze durch die Verehrung der Baale.
Elia forderte Ahab zu einer Probe heraus:
Zwei Stieropfer sollten vorbereitet werden,
aber kein Feuer sollte daran gelegt werden.
Dann sollten die Propheten des Baal und der Aschera
ihre Götter um Feuer für den einen Stier bitten,
und Elia wollte seinen Gott um Feuer für den anderen Stier bitten;
und der Gott, der mit Feuer antworten würde,
sei als der wahre Gott erwiesen.
So geschah es, und es war Elias Gott, der mit Feuer antwortete.
Die Propheten des Baal wurden ergriffen und von Elia getötet.
In vier meiner neun Kinderbibeln,
Nr. 4, Nr. 6, Nr. 7 und Nr. 8,
wird diese Geschichte erzählt.
Jedes Mal ohne die Tötung der Propheten.
Probleme sehe ich trotzdem
bei einigen der Kinderbibel-Versionen dieser Geschichte.
Denn nicht nur Anne de Vries erlaubt sich hier die Unsitte,
Verstöße gegen religiöse Gebote zum Anlass zu nehmen,
zu negativen Werturteilen über Menschen zu gelangen.
Auch Margot Käßmann schreibt:
„Doch Ahab war ein schlechter König.
Er hörte nicht auf den Gott Israels, sondern betete zum Gott Baal.“
Und ohne kritischen Kommentar
wird in diesen beiden sowie einer weiteren Kinderbibel
der Vorwurf des Elia wiedergegeben,
mit seiner Verehrung des Baal
hätte Ahab das Unglück der Dürre über Israel gebracht.
Sollen Kinder wirklich glauben,
dass von Menschen, die eine andere Religion ausüben,
die Gefahr ausginge, alle miteinander zu Schaden zu bringen?
Wie soll sich bei Menschen, die so etwas glauben,
echte Toleranz entwickeln?
Der Gott der Bibel selbst – grausam und ungerecht
Ankündigungen wie diese klingen freundlich:
„Geschichten der Bibel ...
alle erzählen von der Liebe Gottes zu den Menschen.“
(Die große Ravensburger Kinderbibel, Nr. 5, Vorwort)
Viele Behauptungen dieser Art finde ich in meinen Kinderbibeln:
Lieben würde Gott „die Menschen“ oder „uns alle“,
und die Menschen könnten und sollten
Gott vertrauen und ihn lieben.
Aber: „Die Wahrheit ist immer konkret“, wie Lenin bemerkte.
Und das konkrete Verhalten dieses Gottes
sieht in einigen Geschichten ganz anders aus,
als die freundlich klingenden Sprüche
vermuten lassen würden.
Und das nicht nur im biblischen Original,
sondern auch in Kinderbibeln.
Mehrfach reagiert Gott auch dort mit maßloser Härte,
wenn ihm das Verhalten von Menschen missfällt.
Mehrere Kinderbibeln erzählen davon,
wie dieser Gott Menschen tötet:
bei der Sintflut,
in Sodom und Gomorrha,
bei der zehnten Plage in Ägypten ...
Er tötet dabei auch unschuldige Kinder in großer Zahl.
Zu einem solchen Gott sollen Kinder Vertrauen haben?
Eine natürlichere Reaktion wäre es,
wenn sie Angst vor ihm bekämen.
Einen solchen Gott sollen Kinder lieben?
Natürlicher wäre es,
wenn sie ihn ganz und gar nicht mögen würden.
Was ist nur mit all den Autorinnen und Autoren von Kinderbibeln los,
dass sie nicht einmal zu merken scheinen,
welch eine Diskrepanz besteht
zwischen ihrem Anspruch,
einen Gott zu verkünden, dem man vertrauen und den man lieben kann,
und den Taten, die sie von ihm erzählen?
Mir scheint hier eine der bedenklichsten Auswirkungen
einer christlichen religiösen Erziehung am Werk zu sein:
Menschen werden von klein auf daran gewöhnt,
unbesehen alles für gerechtfertigt zu halten,
was ein bestimmter Gott tut oder befiehlt.
Sodass sie nicht einmal dann etwas Falsches daran finden,
wenn dieser Gott unschuldige Menschen in großer Zahl tötet.
Sie werden gewöhnt
an gedankenloses und kritikloses Hinnehmen
von Grausamkeit und Unrecht.
Die Sintflut
Es ist eine der größten Katastrophen,
von denen in der Bibel erzählt wird:
Nahezu die gesamte Menschheit
soll Gott zum Tod durch Ertrinken verdammt haben.
Trotzdem scheinen viele Christen
diese Geschichte für geeignet zu halten,
sie schon kleinen Kindern zu erzählen.
Ja, es scheint eine ihrer Lieblingsgeschichten zu sein:
In 8 meiner 9 Kinderbibeln kommt sie vor,
und Bilder dazu findet man bei vielen Kinderbibeln
ganz vorn auf dem Einband. 7
Es scheint, dass viele Christen nicht einmal bemerken,
was für eine erschreckende Geschichte das ist.
Ihre Aufmerksamkeit scheint vor allem
der spektakulären Rettungsgeschichte zu gelten.
Obwohl es nur acht Menschen sind, die so überleben,
während weitaus die meisten Menschen getötet werden.
Geschichte einer Rettung?
Richtet man den Blick
auf das gesamte Handeln Gottes in dieser Geschichte,
dann wird fraglich, wie weit man da wirklich
von einer „Rettung“ sprechen kann.
Denn bevor Gott aktiv wurde,
waren Noah und seine Familie überhaupt nicht in Gefahr gewesen.
Dieser Gott hat selbst die Gefahr herbeigeführt,
vor der er anschließend bestimmte Menschen bewahrt hat;
er hat weiter nichts getan,
als die Folgen seines eigenen Handelns
von einer kleinen Zahl von Menschen fernzuhalten.
So bleibt von der gepriesenen „Rettung“
weiter nichts übrig als eine kümmerliche Ausnahme
von einer gewaltigen Vernichtung.
Es ist bemerkenswert, wie Christen es fertigbringen,
diese Geschichte einer furchtbaren Katastrophe
als eine Geschichte einer wunderbaren Rettung zu präsentieren. 8
Vermutlich merken viele nicht einmal, wie unpassend das ist.
Um so schlimmer.
Zeigt es doch, wie sehr sich eine derart verzerrte Wahrnehmung
in den Köpfen von christlich erzogenen Menschen festsetzen kann.
Um so mehr gilt es, darauf zu achten,
was Kindern nahegebracht wird.
Derart verzerrte Sichtweisen
fördern sicher nicht die Entwicklung
von vernunftgeleitetem Denken und kritischem Urteilsvermögen
Vielfach scheint die Katastrophe
nicht einmal als Katastrophe wahrgenommen zu werden.
In keiner meiner Kinderbibeln
fand ich ein Wort des Bedauerns oder des Mitgefühls für die Opfer.
Stattdessen gab es negative Bewertungen ihres Verhaltens
in allen acht Darstellungen der Geschichte.
(In einer Kinderbibel: fehlt die Geschichte ganz:
Meine Bilderbibel von Kees de Kort, Nr. 2)
Wie im biblischen Original,
so wird die Massentötung in sechs Darstellungen
eindeutig als Reaktion Gottes auf das Verhalten der Opfer gedeutet;
in zwei Fällen, Nr. 1 und Nr. 8,
wird dabei der Begriff der „Strafe“ ins Spiel gebracht.
Für manche Christen mag der Gedanke eine Rolle spielen,
dass Deutungen dieser Art geeignet wären,
der Massentötung eine Rechtfertigung zu verschaffen.
Von einer gerechten Strafe
kann allerdings keine Rede sein.
Selbst wenn man Einwände gegen Kollektiv-Bestrafungen
einmal außer Acht lässt,
geht das Ausmaß der „Strafe“ deutlich über das hinaus,
was durch das Verhalten der Menschen gerechtfertigt sein könnte.
Was auch immer diese Menschen
ihren Mitmenschen angetan haben könnten,
es könnte gar nicht so viel sein,
dass es an die Tötung fast aller Menschen
durch den Gott der Bibel heranreichen könnte.
Hier wird ein Grundsatz verletzt,
ohne den eine Strafe niemals gerecht sein kann:
der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Als „gerechte Strafe“ kann diese Massentötung
zum Zweiten auch deshalb nicht gerechtfertigt werden,
weil sie viele Unschuldige trifft;
ohne Schuld sind auf jeden Fall Säuglinge und Kleinkinder.
In Gedanken höre ich den Vorwurf,
hier würde ich Maßstäbe meiner eigenen Zeit und Kultur
an einen Text aus einer ganz anderen Zeit und Kultur anlegen.
Darüber müsste ich nachdenken, wenn es mir darum ginge,
wie die Erstellung eines solchen Textes in jener Zeit und Kultur
zu bewerten wäre.
Aus meiner Sicht ist es eine interessante und schwierige Frage,
ob bzw. inwieweit es zulässig ist,
Maßstäbe der eigenen Zeit und Kultur
an Phänomene einer anderen Zeit und Kultur anzulegen.
Und ich halte es durchaus für sinnvoll,
diese Frage mit älteren Schülerinnen und Schülern zu erörtern;
mit Schülerinnen und Schülern, die älter sind
als die Kinder, für die meine Kinderbibeln geschrieben wurden.
Hier geht es mir nicht darum, Vergangenes zu bewerten –
hier geht es mir darum, was Kinder heute lernen sollen.
Dafür liegt die Entscheidung bei uns heute.
Und die Verantwortung.
Wir sind verantwortlich dafür,
welchen Einflüssen unsere Kinder ausgesetzt werden.
Beispielsweise dafür,
dass sie nicht im Rahmen einer religiösen Erziehung
zu jenem „Doublethink“ 9 angehalten werden,
das es Menschen ermöglicht, gleichzeitig zu glauben,
ein Gott hätte nahezu die gesamte Menschheit ertränkt
und wäre trotzdem ein „lieber“ und vertrauenswürdiger Gott.
Jede Art von Doublethink ist unvereinbar
mit wichtigen Erziehungszielen verantwortungsbewusster Eltern:
Es stört die Entwicklung
von vernunftgeleitetem Denken und kritischem Urteilsvermögen.
Besonders problematisch ist Doublethink,
wenn es – wie hier – geeignet ist, zum Störfaktor zu werden
für die Entwicklung des Sinns für Gut und Böse,
für akzeptabel und inakzeptabel, für gerecht und ungerecht.
Was mir eine der Ursachen dafür zu sein scheint,
dass man in allen meinen Kinderbibeln vergeblich sucht
nach Worten des Mitgefühls für die Opfer der Sintflut.
Anscheinend gibt es auch negative Auswirkungen
auf die Entwicklung des Mitgefühls
mit leidenden Menschen,
auf die Bereitschaft zur Parteinahme
für die Opfer von Grausamkeit und Ungerechtigkeit.
Einen bemerkenswerten Mangel an Mitgefühl
zeigen die acht Überlebenden der Sintflut
in zwei Kinderbibeln:
„... in der Arche waren acht glückliche Menschen“,
schreibt Anne de Vries (Nr. 8, S. 20),
und in Nr. 3, Komm, freu dich mit mir,
heißt es über sie im letzten Absatz der Geschichte:
„Alle sind froh.“ (S. 98)
Wie können sie „glücklich“ oder „froh“ sein,
wenn alle anderen Menschen ertrunken sind?
Vielleicht ist es kein Zufall,
dass so etwas gerade in den beiden Kinderbibeln vorkommt,
in denen „die Menschen“ ausdrücklich
als „böse“ oder „schlecht“ bezeichnet werden:
„Die Menschen sind so böse“,
sagt Gott bei der Ankündigung der Sintflut
in der Kinderbibel Komm, freu dich mit mir (Nr. 3, S. 93)
Und Anne de Vries wiederholt die Bewertung,
es seien „schlechte“ Menschen,
sogar mehrfach. (Nr. 8: S. 16, mehrmals auf S. 17, und auf S. 20)
Wenn in dieser Weise gegen Menschen Stimmung gemacht wird,
dann kann das zum Hindernis werden
für die Entwicklung von Mitgefühl,
wenn diesen Menschen etwas Schlimmes angetan wird.
Sodom und Gomorrha
Diese Geschichte kommt in zwei meiner Kinderbibeln vor,
Nr. 7 und Nr. 8.
Die Problematik ist im Wesentlichen die Gleiche wie bei der Sintflut:
Gott zerstört die beiden Städte mitsamt nahezu allen Bewohnern,
einschließlich der unschuldigen Säuglinge und Kleinkinder;
nur Lot und seine beiden Töchter werden verschont.
(Genesis = 1. Mose 18–19)
Wieder sucht man, in beiden Kinderbibeln,
vergeblich nach Worten des Bedauerns für die Opfer.
Und wieder ist es die Kinderbibel von Anne de Vries (Nr. 8),
in der die Zerstörung ausdrücklich als „Strafe“ bezeichnet wird.
Ein Detail der Geschichte
wird nur in dieser Kinderbibel unmissverständlich wiedergegeben:
Lots Frau wird für ihren Ungehorsam –
entgegen den Anweisungen der Engel hatte sie hinter sich gesehen –
prompt mit dem Tode „bestraft.“
Ein krasses Beispiel für eine „Strafe“,
die jede Verhältnismäßigkeit außer Acht lässt.
Sie haben gemurrt – und wurden getötet
Ein weiteres Beispiel für eine „Strafe“ jenseits jeder Verhältnismäßigkeit
ist in drei meiner Kinderbibeln zu finden (Nr. 4, Nr. 7 und Nr. 8):
Auf ihrer langen Wanderung durch die Wüste
wurden die Israeliten ungeduldig :
„... das Volk redete gegen Gott und gegen Mose:
Wozu habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt?
Damit wir in der Wüste sterben?“
Da schickte Gott Schlangen, die viele bissen und damit töteten.
Als die Israeliten Reue zeigten,
gab Gott Anweisungen, wie sie am Leben bleiben konnten.
(Numeri = 4. Mose 21,4–9)
Dass Menschen getötet werden,
nur weil sie unerwünschte Reden geführt haben,
das kennt man sonst aus totalitären Diktaturen.
Erzählt wird das ohne jeden kritischen Kommentar.
Als sollte bei den Kindern der Eindruck entstehen,
solche „Strafen“ könnten in Ordnung sein,
da ja ein bestimmter Gott dafür verantwortlich ist.
Erzieht man Kinder so zu konsequenter Ablehnung
von Methoden totalitärer Diktaturen?
Schafft man so geeignete Bedingungen
für die Entwicklung eines unbestechlichen Gerechtigkeitssinns?
Die 10. Plage in Ägypten
Der Gott der Bibel schreckt nicht davor zurück,
Menschen zu töten, die ihm keinerlei Anlass dazu gegeben haben.
Dafür ist diese Geschichte ein weiteres Beispiel:
Um einen Pharao zu zwingen,
den Israeliten den Auszug aus Ägypten zu erlauben,
schickt Gott zehn Plagen.
Und die zehnte und letzte besteht darin,
dass alle Erstgeborenen in Ägypten getötet werden,
„vom Erstgeborenen des Pharao, der auf dem Thron sitzt,
bis zum Erstgeborenen der Magd an der Handmühle
und bis zu den Erstlingen unter dem Vieh.“
Verschont werden lediglich die Erstgeborenen der Israeliten.
(Exodus = 2. Mose 7–12; Zitat 2. Mose 11,5)
Diese Geschichte wird in 6 meiner 9 Kinderbibeln erzählt;
in einer weiteren (Nr. 9) ist zwar von Plagen die Rede,
nicht aber vom Tod von Menschen.
Alle 6 Kinderbibeln erzählen die Geschichte
ohne kritischen Kommentar dazu,
dass die zehnte Plage vor allem die Erstgeborenen trifft,
vor allem Menschen, die mit den Entscheidungen des Pharao
nicht das Geringste zu tun haben.
In einer der Kinderbibeln erscheinen die zehn Plagen
nicht nur als Maßnahmen, um den Pharao zum Einlenken zu zwingen,
sondern als „Strafen“,
die Gott „dem König und allen Ägyptern“ schickte. (Nr. 8, S. 66)
Einige Seiten weiter stellt Anne de Vries
zum Tod der erstgeborenen Söhne die Behauptung auf:
„... die Ägypter ... wussten sehr wohl, warum das so war.
Sie wussten, es war ihre Schuld
und die Schuld ihres hartnäckigen Königs.“
(Nr. 8, S. 71)
Wieso „ihre Schuld“?
Was konnten die einfachen Ägypter,
was konnte „die Magd an der Handmühle“
wohl für die Entscheidungen des Pharao?
Es ist verblüffend, wie Anne de Vries
mit völlig unbegründeten, ja absurden Anschuldigungen um sich wirft.
Was Kinder von ihm lernen könnten,
wäre alles andere als ein unbestechlicher Gerechtigkeitssinn.
Sünden
Adam und Eva
Die erste „Sünde“ der Menschen
soll laut Bibel darin bestanden haben,
dass Adam und Eva gegen ein Verbot Gottes verstoßen
und von einer Frucht eines bestimmten Baumes gegessen hätten,
einer Frucht des „Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse“.
(Genesis = 1. Mose 2–3)
In 6 meiner 9 Kinderbibeln kommt die Geschichte vor.
Die Folgen, die Gott wegen des Sündenfalls
über Adam und Eva und über die gesamte Menschheit verhängt,
werden dabei recht unterschiedlich beschrieben:
• In 2 Kinderbibeln – Nr. 6 und Nr. 9 –
wird lediglich die Vertreibung aus dem Paradies erwähnt;
• In 3 Kinderbibeln – Nr. 5, Nr. 7 und Nr. 8 –
werden die harte Arbeit des Mannes auf dem Acker
und die Schmerzen der Frau beim Gebären erwähnt,
in einer weiteren – Nr. 4 –
nur die harte Arbeit auf dem Acker;
• In 2 Kinderbibeln wird die Tatsache,
dass Menschen eines Tages sterben müssen,
mit dem Sündenfall in Verbindung gebracht.
Allerdings sind es nicht die „üblichen Verdächtigen“ (Nr. 7 und Nr. 8),
sondern Nr. 4 und Nr. 5.
Sind diese Folgen nicht etwas arg hart, unverhältnismäßig hart?
Diese Frage wird lediglich in einer meiner Kinderbibeln angesprochen:
in Bibelgeschichten mit der Maus (Nr. 9).
Allerdings nur im Hinblick auf die Folgen für spätere Menschen.
Im Dialog zwischen einer Erwachsenen (repräsentiert durch die Maus)
und einem Kind (repräsentiert durch einen kleinen Bären)
meint der kleine Bär:
„Und nur weil die beiden so ungezogen waren,
leben wir heute nicht mehr im Paradies?
Das finde ich aber sehr ungerecht!
Mir wäre so etwas bestimmt nicht passiert, Maus.“
Was der Maus Gelegenheit gibt zu antworten:
„Jetzt schummelst du aber, Bär!
Darf ich dich an den leergeschleckten Honigtopf
in der Speisekammer letzte Woche erinnern?“
Als wäre damit, dass die Begründung des Bären fehlerhaft war,
auch der eigentliche Vorwurf erledigt:
Ist es nicht immer ungerecht,
wenn jemand es mit Absicht so einrichtet,
dass die Folgen von unerwünschtem Verhalten bestimmter Menschen
von anderen Menschen getragen werden müssen?
Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Folgen für Adam und Eva
wird in auch in dieser Kinderbibel nicht gestellt,
so wenig wie in allen anderen.
Stattdessen wird die Aufmerksamkeit auf eine andere Frage gelenkt:
Wie ist das mit der Liebe Gottes?
„Hat er uns auch lieb, wenn wir mal etwas Böses tun?“, fragt der Bär.
„Ja“, versichert die Maus.
Von der Liebe Gottes
sprechen noch zwei weitere Kinderbibeln am Ende dieser Geschichte.
„Aber Gott hatte seine Menschenkinder doch noch lieb“,
schreibt Anne de Vries (Nr. 8, S. 13)
„Adam und Eva ... Doch sie spürten, dass Gott sie immer noch liebte ...“,
schreibt Margot Käßmann (Nr. 6, S. 15).
Nur: Wie passen dazu die Folgen, die Gott Adam und Eva auferlegt?
Die Vertreibung aus dem „wunderbaren Paradiesgarten“
(die einzige Folge, die Margot Käßmann erwähnt)
wäre schon hart.
Erst recht, wenn, wie bei Anne de Vries,
schwere Arbeit auf dem Acker und Schmerzen beim Gebären hinzukommen.
Zumindest in diesem Fall dürfte man fragen:
Ist das die Art, wie man mit Menschen umgeht, die man liebt?
Wird man dann, wenn man liebt,
mit einer solchen Härte reagieren?
Gewiss kann man, wenn man will, aus jedem Fehler
eine große Sache machen.
Wenn man will,
kann man jeden Fehler –
und sei der konkrete daraus resultierende Schaden noch so gering –
als eine Störung einer Beziehung deuten.
So schreibt Margot Käßmann über Adam und Eva:
„Sie hatten Gottes Vertrauen gebrochen.“ (Nr. 6, S. 15)
Aber was ist denn von einer „Liebe“ zu halten,
wenn sie so wenig belastbar ist,
dass aus dem kleinsten Fehler
eine ernsthafte Störung der Beziehung entstehen kann?
Als Störung einer Beziehung
deutet auch die Neukirchener Kinder-Bibel
das Verhalten von Adam und Eva:
„... die Bibel ... erzählt von den ersten Menschen
und ihrem ursprünglichen Einssein mit Gott und der Schöpfung.
Aber sie erzählt auch ... vom Einbruch der Sünde
in das Leben der Menschen. ...
... die Menschen haben ihre ursprüngliche göttliche Bestimmung selbst verfehlt. Sie haben sich gegen Gott entschieden
und damit von Anfang an ihr Daseinsrecht verwirkt.“
(Nr. 7, Anhang für die Erwachsenen, S. 300)
„...ihr Daseinsrecht verwirkt“, das ist ein hartes Urteil,
das die Autorin der Kinderbibel da über „die Menschen“ fällt.
Mir scheint da eine Aggressivität gegen Menschen durchzuschimmern,
die nicht recht passen will zum Anspruch vieler Christen,
dass ihre Religion eine Religion der Liebe sei;
eine Aggressivität, die mir dennoch ihre Wurzeln
nicht zuletzt in dieser Religion zu haben scheint. 10
Ein weiterer Kunstgriff wird in der Neukirchener Kinder-Bibel angewandt,
um eine kleine Verfehlung zu einer großen Sache aufzublasen;
es wird behauptet, die kleine Verfehlung
wäre die Ursache von etwas weit Schlimmeren gewesen:
„Der erste, scheinbar nur geringfügige Ungehorsam
führt in der Folge zu einem geradezu maßlosen Anwachsen
der Sünde ...
Immer größer und ungeheuerlicher wird das Verlangen der Menschen, zu »sein wie Gott«.
Dabei bewegen sich die Menschen immer weiter von Gott weg
und werden sich selbst untereinander mehr und mehr fremd.
Brüche werden sichtbar in der Beziehung von Mann und Frau
sowie in der Beziehung von Bruder und Bruder
und führen schließlich zum Totschlag.“
(Nr. 7, Anhang für die Erwachsenen, S. 301)
„Sein wie Gott“,
das ist ein wichtiger Punkt in der Bibel selbst.
Das ist es, woran der Gott der Bibel den Menschen hindern will:
„Und Gott der HERR sprach:
Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner
und weiß, was gut und böse ist.
Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand
und breche auch von dem Baum des Lebens
und esse und lebe ewiglich!“
(Genesis = 1. Mose 3,22)
In den Texten für die Kinder
kommt die besondere Bedeutung dieses Punktes für die Vertreibung
in keiner meiner Kinderbibeln heraus.
Angesprochen wird dieser Punkt an anderen Stellen; 11
und dass Gott etwas gegen derartige Ambitionen der Menschen hat,
lasst sich mehr oder weniger deutlich herauslesen.
Wenig Beachtung findet,
dass Gott in der Bibel ausdrücklich bestätigt,
dass in dieser Richtung bereits eine Tatsache geschaffen wurde:
„Der Mensch ... weiß, was gut und böse ist.“
Dabei ist dies ist ein bemerkenswerter Satz.
Denn dort steht nicht etwa:
„Der Mensch bildet sich ein, dass er wüsste, was gut und böse ist.“
Dort steht: „Er weiß es.“
Es ist ein Satz, dem man emanzipatorisches Potential abgewinnen könnte.
Man könnte ihn als Ermutigung lesen,
sich in Fragen von Gut oder Böse ein eigenes Urteil zu bilden
und sich der Verantwortung zu stellen,
die damit einhergeht.
(mehr dazu hier)
Jedoch nicht nur das emanzipatorische Potential des Satzes,
auch der Satz selbst bleibt in meinen Kinderbibeln
weitgehend unbeachtet. 12
Wenn überhaupt näher erklärt wird,
warum Gott so zornig war über den Biss in die Frucht,
dann mit dem Hinweis darauf, dass damit ein Verbot übertreten wurde:
– eher nebenbei in Die große Ravensburger Kinderbibel (Nr. 5).
– deutlich in Bibelgeschichten mit der Maus (Nr. 9),
– mit großem Nachdruck in Die Bibel für Kinder erzählt
von Margot Käßmann (Nr. 6).
In den beiden zuletzt genannten Kinderbibeln
geht es überhaupt nicht mehr um den Zweck des Verbots.
Der wird in keiner Weise genannt,
es gibt keinerlei Hinweis darauf,
dass der Baum, dessen Früchte verboten sind,
etwas mit Erkenntnis zu tun hätte.
Nur um eines scheint es zu gehen:
Da war ein Verbot, und das wurde übertreten.
Wenn es nicht mehr darauf ankommt,
ob ein nennenswerter Schaden entstanden ist –
wenn schon die Übertretung als solche
in jedem Fall als etwas Schlimmes bewertet wird –
dann ist vorprogrammiert,
dass viele Menschen in die Lage geraten,
„etwas Schlimmes“ getan zu haben.
Wer wiederholt eine solche Erfahrung macht,
bei dem entwickelt sich leicht das Gefühl,
unzulänglich zu sein.
Das ist nicht das, was liebende Eltern sich für ihre Kinder wünschen.
Liebende Eltern wünschen sich selbstbewusste Kinder,
die ihre Stärken zu ihrem Vorteil gebrauchen
und Freude daran haben.
Liebende Eltern wünschen sich Kinder,
die ihren Fehlern nicht mehr Bedeutung beimessen,
als ihnen zukommt,
und die entsprechend gelassen damit umgehen können.
Selbsteinschätzung
Das Gefühl, unzulänglich zu sein, ist kein schönes Gefühl.
Besonders bedrückend kann es werden,
wenn daraus das Gefühl entsteht, nicht liebenswert zu sein.
Und von da ist es nicht weit
zu der Befürchtung, nicht geliebt zu werden.
Was sagen die Autor(inn)en der Kinderbibeln
zu solchen Gedanken?
Sie könnten sagen:
„Ja, Menschen machen manchmal Fehler,
Menschen sind nicht perfekt –
aber wer erwartet das denn von ihnen?
Es wäre unrealistisch, so etwas zu erwarten,
und unfair, es zu verlangen.
Wenn Menschen manchmal Fehler machen,
dann ändert das nichts daran,
dass sie im Wesentlichen in Ordnung sind.
Und es ändert nichts daran,
dass sie liebenswert sind.
Und natürlich ändert es nichts daran,
dass sie erwarten können, geliebt zu werden.“
Aber in den Kinderbibeln
liest man zum „Sündenfall“ stattdessen Sätze wie:
„Aber Gott hatte seine Menschenkinder doch noch lieb.“ (Nr. 8)
„Doch Gott ließ auch jetzt seine Menschen nicht los.“ (Nr. 7)
„Adam und Eva ...
Doch sie spürten, dass Gott sie immer noch liebte ...“ (Nr. 6)
Es sind beschwichtigende Sätze,
die sich gegen die Befürchtung wenden,
nicht geliebt zu werden.
Aber sie fassen das Übel nicht bei der Wurzel:
bei der negativen Selbsteinschätzung,
die überhaupt erst solche Befürchtungen aufkommen lässt.
Mit „doch“ oder „aber“ beginnen diese Sätze von der Liebe Gottes,
als sollte damit gesagt werden:
„Aber es hätte auch anders sein können!“
Klar kommt das zum Ausdruck in der Kinderbibel von Margot Käßmann.
Dort heißt es einige Sätze zuvor zum Regelverstoß von Adam und Eva:
„Alles hatten sie damit aufs Spiel gesetzt.“ (Nr. 6, S. 15)
Ausdrücklich angesprochen
wird die „Angst, Gottes Freundschaft zu verlieren“
in Bibelgeschichten mit der Maus (Nr. 9, S. 10).
Und zwar zuerst von der Maus,
die in dieser Kinderbibel die Rolle der Erwachsenen spielt.
Sie beginnt damit, dass „wir“ diese Angst hätten,
wenn es uns nicht gelingt, uns für das Gute zu entscheiden.
Wenn sie am Ende versichert,
dass Gott uns auch lieb habe, „wenn wir mal etwas Böses tun“,
dann wird damit doch nicht zurückgenommen,
dass die Angst durchaus begründet sei,
dass es auch anders sein könnte.
In freundlich klingende Worte
verpackt die Kinderbibel Komm, freu dich mit mir (Nr. 3)
ihre Botschaft.
Da wird ein Gebet vorgeschlagen:
„Lieber Gott,
ich bin froh, dass du mich lieb hast,
so wie ich bin. ...“
(S. 103, zur Geschichte von der Sintflut)
Da lässt sich heraushören:
„Es könnte auch anders sein, so wie ich bin.“
Es lässt sich heraushören:
„obwohl ich so bin, wie ich bin.“
Kindern wird in dieser Kinderbibel
ein negatives Werturteil über die eigene Person nahegelegt.
Eindeutig zeigt sich das
in einem anderen Vorschlag zu einem Gebet;
dort heißt es:
„Auch wir Menschen dürfen bei dir
immer wieder neu anfangen,
wenn wir etwas falsch gemacht haben.
... Danke, lieber Gott.“
(S. 67, zu Ostern)
Warum sollte ein Kind sich denn freuen,
wenn es „immer wieder neu anfangen“ kann?
Ist eine kontinuierliche gute Beziehung nicht viel besser
als eine, die für neue Anfänge „immer wieder“ unterbrochen wird?
Wenn eine Beziehung gut ist,
dann braucht man nicht immer wieder neu anzufangen.
Im Vordergrund steht dann das Gute,
das es in dieser Beziehung gegeben hat.
Nicht zuletzt die gemeinsame Freude an dieser Beziehung.
All dies Gute kann eine Menge aufwiegen
von dem, was man falsch gemacht hat.
Erst recht von dem,
was ein Kind von 3–6 Jahren falsch gemacht haben kann.
Es bleibt eine positive Bilanz,
das Kind kann gern an das anknüpfen wollen, was war.
Es würde nicht „immer wieder neu anfangen“ wollen.
Mit der positiven Bewertung des Neuanfangs
wird dem Kind eine andere Botschaft vermittelt:
„Wenn du etwas falsch gemacht hast,
dann ist deine Bilanz negativ.
Derart negativ,
dass du dankbar sein musst,
wenn dir die Möglichkeit zu einem Neuanfang geboten wird.
Und auch in Zukunft
wirst du immer wieder dafür dankbar sein müssen,
denn immer wieder wird deine Bilanz entsprechend aussehen.“
Warum verbreiten christliche Autor(inn)en
eine so negative Selbsteinschätzung?
Sicherlich nicht, um Kindern zu schaden.
Im Gegenteil, in ihren Beteuerungen,
dass Gott die Menschen doch liebe,
kann ein Bemühen um Schadensbegrenzung vermutet werden.
Warum also dann?
„Weil sie es selbst so gelernt haben“,
das mag ein Teil der Erklärung sein.
Der Hauptgrund
scheint mir jedoch in einer der zentralen Lehren
der christlichen Religion zu liegen:
in der Lehre von der Erlösung durch den Kreuzestod Jesu.
Um diese Lehre plausibel erscheinen zu lassen,
ist es wichtig, den Menschen erlösungsbedürftig erscheinen zu lassen.
Und je negativer die Selbsteinschätzung eines Menschen,
um so größer dürfte vielfach seine Bereitschaft sein,
sich selbst als erlösungsbedürftig zu sehen.
Leiden und Tod Jesu
Welche Geschichten sollten für eine Kinderbibel ausgewählt werden?
Zu dieser Frage schreibt Margot Käßmann
im Vorwort zu ihrer Kinderbibel:
„Der Kreuzigung auf jeden Fall können wir nicht ausweichen,
sie ist zentral für den christlichen Glauben.“
So sehen es offenbar viele Autor(inn)en.
In sieben meiner Kinderbibeln (Nr. 2–8) wird die Geschichte erzählt.
Sie fehlt nur in einer der acht Kinderbibeln,
die Geschichten aus dem Neuen Testament enthalten:
in einem Bilderbuch mit Pappseiten „für die Allerkleinsten“ (Nr. 1).
Nun gibt es viele Möglichkeiten,
Kindern diese Geschichte zu erzählen.
Man kann die Frage,
warum Jesus sterben musste,
sehr unterschiedlich beantworten.
Auf jeden Fall kann man Erklärungen „von dieser Welt“ abgeben.
Man kann davon erzählen,
dass und warum bestimmte Menschen,
z. B. „Pharisäer und Schriftgelehrte“,
Jesu Tod gewollt hätten.
Und: Man kann sich auf Erklärungen dieser Art beschränken.
Man kann die Geschichte erzählen
ohne jeden Hinweis auf bestimmte Lehren
der biblischen Theologie:
Lehren, nach denen Gott – oder Jesus –
den Tod am Kreuz gewollt haben soll.
Lehren, nach denen Jesus
für andere Menschen gestorben sein soll.
Eine solche Darstellung
habe ich in einem Religionsbuch für das 2. Schuljahr 13 gefunden.
Nicht jedoch in meinen Kinderbibeln.
Alle sieben, in denen vom Kreuzestod Jesu erzählt wird,
enthalten zumindest einen Hinweis darauf,
dass Jesus für andere Menschen gestorben sei.
In sechs dieser Kinderbibeln wird die Lehre angesprochen,
dass Gott – oder Jesus – es so gewollt haben soll. 14
Die Lehre hingegen,
dass Jesu Tod der Vergebung der Sünden diene,
ist nicht so oft zu finden: in nur drei von meinen sieben Kinderbibeln. 15
Was bei den Kindern ankommt,
wird nicht immer genau mit dem übereinstimmen,
was in einer Kinderbibel steht.
Das scheint auch nicht unbedingt die Absicht der Autor(inn)en zu sein.
Eher sieht es so aus, dass zum Text der Kinderbibel
das Gespräch zwischen Erwachsenen und Kindern hinzukommen soll.
Einige Autor(inn)en begrüßen das ausdrücklich
in einem Vorwort oder Nachwort,
und/oder sie geben den Erwachsenen Hinweise für solche Gespräche
in erklärenden Nachworten zu einzelnen Geschichten.
In Gesprächen mit den Kindern
werden einige Erwachsene den Inhalt ihrer Kinderbibel
durch eigene theologische Vorstellungen ergänzen.
Andere werden sich recht eng an das halten,
was sie in ihrer Kinderbibel vorfinden:
Sei es, weil es ihnen so gefällt,
sei es, weil sie zu unsicher sind, um eigene Ideen einzubringen.
Schließlich wird es Erwachsene geben,
die das eine oder andere weglassen,
etwa, weil sie meinen, das sei noch zu schwierig für die Kinder.
Viel Neues dürfte durch solche Gespräche nicht hinzukommen.
Ich glaube nicht, dass viele Erwachsene
von sich aus jene Vorstellungen aus dem Neuen Testament
an Kinder herantragen werden,
in denen von einem „Sühnopfer“ die Rede ist 16
oder von Gottes „Zorn“. 17
Was bei den Kindern ankommt,
das dürfte in den meisten Fällen
gut in das Spektrum von Möglichkeiten passen,
das ich in meinen Kinderbibeln gefunden habe.
So halte ich die Beschäftigung mit diesen Möglichkeiten,
wie sie da stehen,
keineswegs für praxisfern.
Möglichkeit 1:
Der einzige deutlich erkennbare Hinweis
auf theologische Deutungen von Jesu Kreuzestod
besteht in einem Zitat von Jesu Worten beim Abendmahl:
„Und der Wein ist mein Blut, das für euch vergossen wird.“
(So zu finden in den Geschichten um Jesu Passion
in der Kinderbibel von Margot Käßmann, Nr. 6, S. 117;
allenfalls könnte man in den beiden Stellen,
an denen Jesus als „Retter“ bezeichnet wird,
Erläuterungen sehen –
aber das kann Lesern ohne Vorkenntnisse leicht entgehen,
denn dazwischen liegen 18 Seiten mit anderen Geschichten.)
Wenn das Zitat vom Vergießen des Blutes
nur so vermittelt wird, wie es da steht,
dann ist es für Kinder ohne Vorkenntnisse völlig unverständlich:
Für wen soll das Blut vergossen werden, und wozu, und wer will das?
Sollen Kinder sich mit so etwas zufrieden geben?
Mit Formulierungen, die vielleicht eindrucksvoll klingen,
von denen aber im Dunkeln bleibt, was sie denn bedeuten?
Eltern, denen die Erziehung zu klarem Denken am Herzen liegt,
werden ihre Kinder nicht daran gewöhnen wollen.
Denn zum klaren Denken
gehört Klarheit darüber, wovon überhaupt die Rede ist.
Möglichkeit 1a:
Zu Möglichkeit 1 kommen Angaben hinzu,
für wen Jesus gestorben sein soll:
Nicht etwa nur für die Jünger,
an die Jesus damals seine Worte gerichtet hat.
Sondern auch
„für viele Menschen“, „für alle Menschen“ oder „für uns alle“.
(Fundstellen 18)
Hier wird deutlich, dass mit „für euch“
auch die angesprochenen Kinder gemeint sind.
Es geht also um diese Kinder selbst.
So ist es erst recht inakzeptabel,
wenn diese Kinder mit klangvollen aber nichtssagenden Formulierungen abgespeist werden.
Möglichkeit 2:
Zu der Lehre,
dass Jesus für andere Menschen gestorben sein soll,
kommt eine weitere Lehre hinzu:
dass Gott – oder Jesus – es so gewollt haben soll.
(Fundstellen 19)
Sollen Kinder aus der Behauptung,
dass Gott – oder Jesus – es so gewollt habe,
den Schluss ziehen, dass er es zu Recht so gewollt habe?
Sollen sie sich damit zufrieden geben?
Das wäre Erziehung zur Autoritätshörigkeit,
keine Erziehung zu eigenständigem und kritischem Denken.
Kritisches Denken heißt,
dass der Weg frei bleiben muss für kritische Fragen.
Ganz besonders dann, wenn es darum geht,
dass ein Mensch schwer leiden und qualvoll sterben soll.
Besonders dann wäre es wichtig,
dass Fragen nach Begründungen nicht beiseite geschoben werden.
Fragen wie diese:
Warum sollte Gott – oder Jesus – so etwas gewollt haben?
Was sollte damit erreicht werden?
Wieso könnte es dafür von Nutzen gewesen sein,
wenn Jesus unter Qualen starb?
Hätte Gott – oder Jesus –
das Gleiche nicht auch auf andere Weise erreichen können?
Möglichkeit 2a:
Zusätzlich zu den Angaben von Möglichkeit 2 heißt es:
„So zeigt Gott euch seine Liebe.“
(Fundstellen 19a)
Ohne Antworten auf die zuletzt genannten Fragen
ergibt sich auch daraus keine Begründung.
Denn es bleiben im Wesentlichen dieselben Fragen:
Was wollte Gott aus Liebe erreichen?
Warum auf diese Weise?
Ging es nicht auch anders?
Möglichkeit 2b:
Zusätzlich zu den Angaben von Möglichkeit 2 heißt es,
dass alles von den Propheten vorausgesagt worden sei.
(Fundstellen 19b)
Mit einer solchen Behauptung
kann nahegelegt oder bekräftigt werden,
dass Gott alles so gewollt haben soll.
Aber es wird damit nicht erklärt,
warum er es so gewollt haben soll.
Möglichkeit 3
Es wird behauptet, Jesu Leiden und Sterben hätte sein müssen,
damit er zum „Heiland der Menschen“ werden konnte.
(Fundstellen 20)
„Es musste sein“,
diese Behauptung wird als Aussage Jesu dargestellt.
Bei der Autorität, die Jesus in christlichen Kreisen zuerkannt wird,
kommt das einer Aufforderung gleich,
diese Behauptung als wahr zu akzeptieren.
Die Frage ist jedoch auch hier, ob es richtig ist,
wenn Kinder aufgefordert werden,
so etwas ohne Begründung zu akzeptieren.
Erziehung zu kritischem Denken sieht anders aus.
Sie ebnet den Weg zu der Erkenntnis,
dass eine Portion Skepsis immer angebracht ist,
wenn jemand behauptet, etwas müsse sein,
während keinerlei Begründung in Sicht ist.
Das gilt erst recht,
wenn es um das qualvolle Leiden und Sterben eines Menschen geht.
Ist eine Begründung im Sicht?
Sie wäre denkbar, wenn es irgendeine böse Macht gäbe,
die einen guten Gott an der Rettung von Menschen hindern würde,
außer wenn Jesus den Tod am Kreuz erleidet.
Aber das kann nicht sein, wenn Gott allmächtig ist,
wie Christen immer wieder verkünden.
Wenn Gott allmächtig ist,
dann kann es nichts und niemanden geben,
der oder das ihn daran hindern könnte,
Jesus den Tod am Kreuz zu ersparen
und nichtsdestoweniger
für die Rettung von beliebig vielen Menschen zu sorgen.
Wenn Gott allmächtig ist,
dann kann seine Entscheidung für Jesu Kreuzestod
nicht durch irgendeine Zwangslage erklärt werden.
Dann ist das seine eigene,
durch nichts und niemanden erzwungene Entscheidung.
Dann trägt er die volle Verantwortung dafür.
Zwischenbilanz:
In vier der sieben Kinderbibeln,
in denen Jesu Kreuzestod vorkommt,
wird die biblische Theologie dazu lediglich angedeutet.
In drei davon – Nr. 3, 4 und 6 – wird keinerlei Begründung genannt,
warum Gott – oder Jesus – es so gewollt haben könnte.
In einer vierten – Nr. 5 – heißt es zwar:
„... nur so wird er zum Heiland der Menschen.“
Aber es wird weder gesagt,
warum es für die Menschen wichtig wäre, einen Heiland zu bekommen;
noch wird gesagt,
wie der Kreuzestod dazu dienen könnte, zum Heiland zu werden;
noch wird gesagt,
warum das nicht auf andere Weise erreicht werden konnte oder sollte.
Nun zu den drei der sieben Kinderbibeln,
in denen die biblische Theologie näher beschreiben ist.
Möglichkeit 4
Jesu Tod, heißt es, diene der Vergebung der Sünden,
für viele Menschen bzw. für „uns alle“.
(Fundstellen 21)
In diesem Zusammenhang liegt es nahe,
die Rede von Jesu Leiden „für“ andere Menschen
so zu verstehen, dass Jesus an ihrer Stelle gelitten habe. 22
Diese Aussagen lassen jedoch einige Fragen offen.
Wieso sollte Jesu Tod
der Vergebung der Sünden anderer Menschen dienen?
Hätte ein allmächtiger Gott
nicht ebenso vielen Menschen ihre Sünden vergeben können,
wenn Jesus dieser Tod erspart geblieben wäre?
Und hätte ein allmächtiger Gott
nicht sowohl Jesus als auch andere Menschen
vor Leiden bewahren können,
sodass ein stellvertretendes Leiden Jesu sich erübrigt hätte?
Aus welchem Grund
hätte ein allmächtiger Gott
sich für den Kreuzestod Jesu entscheiden sollen?
Doch diese Fragen
werden in meinen Kinderbibeln gar nicht erst gestellt.
Stattdessen heißt es beispielsweise,
an Jesus vollziehe sich „das Gericht Gottes“
(Nr. 7, S. 319 , im Anhang für die Erwachsenen).
Anne de Vries verwendet das Wort „Strafe“.
(Nr. 8, S. 210).
Beides klingt nach richterlicher Autorität.
Es klingt nach dem Anspruch, es gehe um Gerechtigkeit.
Das wäre ein Anspruch, der auch im Neuen Testament erhoben wird.
„So erweist Gott seine Gerechtigkeit“,
heißt es im Brief des Paulus an die Römer 3,25.
Gerechtigkeit?
Wenn Gott – mit Vorbedacht! – einen Unschuldigen
zu einem qualvollen Tod verurteilt?
Und dies nicht etwa nur so nebenbei
wie in den Geschichten von der Sintflut oder von Sodom und Gomorrha.
Geschichten, in denen die unschuldigen Säuglinge und Kleinkinder
zusammen mit vielen anderen Menschen getötet werden.
Im Falle Jesu
war es genau das, worauf dieser Gott abzielte:
Er wollte, dass ein Unschuldiger qualvoll sterben sollte.
So zeigt sich hier besonders deutlich:
Dieser Gott ist alles andere als gerecht!
Wieder höre ich in Gedanken den Vorwurf,
hier würde ich Maßstäbe meiner eigenen Zeit und Kultur
an Lehren aus einer ganz anderen Zeit und Kultur anlegen.
Aber hier geht es nicht um diese andere Zeit und Kultur.
Hier geht es darum, was unsere Kinder lernen sollen.
Eltern, denen die Erziehung ihrer Kinder
zu einem unerschütterlichen Sinn für Gerechtigkeit am Herzen liegt,
müssen entscheiden,
an welchen Begriff von Gerechtigkeit sie sich halten wollen.
An einen Begriff, nach dem es „gerecht“ sein könnte,
wenn ein Unschuldiger bestraft wird?
Das muss nicht sein.
Bessere Begriffe von Gerechtigkeit
gibt es sogar schon in der Bibel:
„Nur wer sündigt, soll sterben.
Ein Sohn soll nicht die Schuld seines Vaters tragen
und ein Vater nicht die Schuld seines Sohnes.
Die Gerechtigkeit kommt nur dem Gerechten zugute
und die Schuld lastet nur auf dem Schuldigen.“
(Ezechiel = Hesekiel 18,20;
diese Schrift entstand im babylonischen Exil,
Jahrhunderte vor allen Schriften des Neuen Testaments.)
Dieser Grundsatz hat sich in unserer Kultur
zum Glück weithin durchgesetzt.
Darüber hinaus wurde in unser Rechtswesen
ein wichtiger Grundsatz aus dem römischen Recht übernommen:
„In dubio pro reo“ –
„im Zweifelsfalle zugunsten des Angeschuldigten“.
Weil Menschen sehen, wie wichtig es ist,
dass nach Möglichkeit niemals
jemand unschuldig bestraft wird.
Wie wichtig es ist,
dass nach Möglichkeit niemandem
ein so bitteres Unrecht angetan wird.
Das sind Einsichten,
die zu den wertvollsten Errungenschaften unserer Kultur zählen.
Eine Konsequenz:
Die Bestrafung eines Unschuldigen schafft keine Gerechtigkeit,
sie schafft nur neues Unrecht.
Wer dennoch Kindern beibringt,
dass die Bestrafung eines Unschuldigen „gerecht“ sein könnte,
behindert ihre Entwicklung
zu einem wachen und unbestechlichen Gerechtigkeitssinn.
Hier haben wir allerdings ein Problem für christliche Eltern,
das sich nicht durch eine bedachte Auswahl der Kinderbibel
oder durch Überspringen bestimmter Stellen
aus der Welt schaffen lässt.
Allzu leicht kann eine christliche Erziehung
den Boden dafür bereiten,
dass Kinder sich überreden lassen,
die gröbsten Ungerechtigkeiten als „gerecht“ zu akzeptieren,
wenn diese Ungerechtigkeiten von einem bestimmten Gott ausgehen.
Vielleicht schaffen es einige christliche Eltern,
ihren Kindern eine Version der christlichen Lehren zu vermitteln,
durch die diese Gefahr vermieden wird.
Eine Version,
in der es nicht die Entscheidung eines angebeteten Gottes ist,
einen Unschuldigen zu einem qualvollen Tode zu verurteilen.
Solche Versionen der christlichen Lehren gibt es.
Allerdings kommen sie mir ein wenig vor
wie Chili con Carne ohne Chili:
Es mag ja schmecken, aber die Bezeichnung ist irreführend.
Schuldgefühle
„Jemand leidet für mich“,
das ist an sich schon ein bedrückender Gedanke.
Was einige Autor(inn)en von Kinderbibeln
nicht davon abgehalten hat,
diesen Gedanken an die Kinder heranzutragen.
Noch weit belastender wird es,
wenn zu dem Gedanken „Jemand leidet für mich“
der Gedanke hinzukommt: „Und ich bin daran schuld.“
Dieser Gedanke liegt nahe,
wenn es heißt, bei dem Leiden für uns
gehe es um die Vergebung unserer Sünden.
Ausdrücklich formuliert wird das
in Meine Bilderbibel von Kees de Kort (Nr. 2).
In einem Nachwort für die Erwachsenen
wird aus einem Kirchenlied von Paul Gerhardt zitiert:
„Nun, was du, Herr, erduldet,
ist alles meine Last;
Ich hab es selbst verschuldet,
was du getragen hast.“
Anschließend fragt der Autor:
„Können wir den Kindern wenigstens ansatzweise
diese Sicht nahebringen?“
Das ist eine schwere Anschuldigung:
Die Kinder hätten Schuld an Jesu Leiden und Sterben?!
Und es ist eine unbegründete Anschuldigung.
Für wen könnten denn die kleinen Missetaten unserer Kinder
ein Grund sein, einen Menschen am Kreuze leiden und sterben zu lassen?
Nur ein höchst ungerechtes Wesen könnte so etwas wollen.
Schuld daran hätte dies ungerechte Wesen,
und nicht unsere Kinder. 23
Es wäre höchst unfair,
wenn Eltern eine derart schwere
und zugleich völlig unbegründete Anschuldigung
an ihre Kinder weitergeben würden.
Denn Schuldgefühle tun weh.
Aber auch ungerechte Anschuldigungen tun weh.
Fazit
In meinen Kinderbibeln zeigt sich eine Tendenz,
bestimmte problematische Inhalte der Bibel wegzulassen.
Aber nicht alle.
Auch in manch einer Kinderbibel-Geschichte
erweist sich der darin agierende Gott
als ausgesprochen grausam und ungerecht.
Da müssen Eltern sich fragen,
was die Verehrung eines solchen Gottes
für die charakterliche Entwicklung ihrer Kinder bedeutet.
Können Kinder
einen so grausamen und ungerechten Gott verehren
und sich dabei dennoch
zu human und gerecht denkenden Menschen entwickeln?
Man könnte an eine Bibelstelle denken:
„Niemand kann zwei Herren dienen;
er wird entweder den einen hassen und den andern lieben
oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten.“
(Matthäus 6,24)
Zudem könnten Eltern sich fragen,
ob Geschichten von der Grausamkeit und Ungerechtigkeit Gottes
ihren Kindern nicht unnötigen Kummer bereiten.
Und andererseits,
ob die Gewöhnung an solche Geschichten
nicht zu einem Verlust an Sensibilität
für Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten führt.
Viele christlich erzogene Menschen
scheinen ja nicht einmal zu merken,
wie ungerecht ein Gott ist,
der einen Unschuldigen zu einem Foltertod am Kreuz verurteilt –
und wie grausam gegenüber dem eigenen Sohn!
Was können Eltern tun,
damit weder Nachteile für die charakterliche Entwicklung entstehen
noch unnötiger Kummer?
Im Prinzip gibt es drei Möglichkeiten:
1. Problematische Stellen weglassen
2. Eine christliche Theologie anderer Art vermitteln
3. Sich gegen eine christliche Erziehung entscheiden
1. Möglichkeit: Problematische Stellen weglassen
Es sieht nach einer einfachen Lösung aus:
Man könnte sich eine relativ unproblematische Kinderbibel aussuchen,
und man könnte die problematischen Stellen überspringen.
Bei einer Reihe von Stellen
könnte das vielen Christen leicht fallen:
Solange es um Geschichten aus dem Alten Testament geht
oder um Jesu Drohungen mit dem ewigen Feuer der Hölle.
Denn das alles gehört nicht zum Kernbereich ihres Glaubens.
Anders sieht es aus mit der Lehre
von der Erlösung durch Jesu Tod am Kreuz.
Diese Lehre gehört für viele Christen
zum Kernbereich ihres Glaubens.
Hier scheiden sich die Geister.
Es wird christliche Eltern geben, die nicht bereit sind,
auf die Weitergabe dieser Lehre an ihre Kinder zu verzichten.
Ihre Motive reichen von geistiger Trägheit
über eine überwältigende Sorge um das Seelenheil
bis hin zu mangelnder Einsicht,
wie nachteilig sich diese Lehre auf ihre Kinder auswirken kann,
auf ihr psychisches Ergehen wie auf ihre charakterliche Entwicklung.
Auf der anderen Seite wird es christliche Eltern geben,
die ernsthaft nach Alternativen zu dieser Lehre suchen.
Das könnte eine christliche Theologie anderer Art sein
(das wäre Möglichkeit 2)
oder ein Erziehungskonzept ohne christliche Theologie
(das wäre Möglichkeit 3).
Schließlich wird es christliche Eltern geben,
die sich durchzuschlängeln versuchen.
Mit einer christlichen Erziehung,
bei der sie „einfach“ auf die Weitergabe bestimmter Lehren verzichten.
Vielleicht haben sie damit Glück.
Aber oft nur, weil die meisten Kinder von heute
sich kaum für Religion interessieren
und vieles an sich abgleiten lassen.
Vielleicht haben sie aber auch Pech.
Das heißt, eigentlich sind es die Kinder, die dann Pech haben.
Wer seine Kinder in einen christlichen Religionsunterricht schickt,
vielleicht sogar in einen christlichen Kindergarten
oder in den Kindergottesdienst,
muss damit rechnen, dass sie früher oder später
auch mit christlichen Lehren in Berührung kommen,
die ihre Eltern bewusst nicht an sie weitergegeben haben.
Einschließlich der Lehre,
dass Jesus wegen der Sünden der Kinder gestorben sein soll.
Durch eine christliche Erziehung der beschriebenen Art
bekommen die Kinder wenig Rüstzeug
für eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Lehren.
Eher dürften sie sich bei Lehren,
die als „christlich“ bezeichnet werden,
allzu sicher zu fühlen vor problematischen Inhalten.
So kann eine christliche Erziehung der beschriebenen Art
leicht den Boden dafür bereiten,
dass Kinder sich überreden lassen,
die gröbsten Ungerechtigkeiten als „gerecht“ zu akzeptieren,
wenn diese Ungerechtigkeiten von einem bestimmten Gott ausgehen.
Und dafür, dass diese Kinder
eine unangemessen negative Selbsteinschätzung entwickeln,
vielleicht sogar völlig unbegründete Schuldgefühle.
2. Möglichkeit: Eine christliche Theologie anderer Art vermitteln
Besser gerüstet für eine kritische Auseinandersetzung
mit problematischen christlichen Lehren
sind Kinder, die diesen Lehren eine Alternative entgegenzusetzen haben.
Beispielsweise eine Version der christlichen Lehren,
in der es nicht die Entscheidung eines angebeteten Gottes ist,
einen Unschuldigen zu einem qualvollen Tode zu verurteilen.
Solche Versionen der christlichen Lehren gibt es.
Allerdings werden sie nicht wenigen Christen vorkommen
wie Chili con Carne ohne Chili:
Es mag ja schmecken, aber die Bezeichnung passt nicht.
So werden nicht wenige Christen
sich erst einmal für sich selbst
einer intensiven geistigen Auseinandersetzung stellen müssen,
bevor sie Alternativen zu traditionellen christlichen Lehren akzeptieren können.
Nicht wenige werden dabei zunächst innerlich
gegen den Strom schwimmen müssen.
Denn in kaum einem Bereich neigen Menschen so sehr dazu,
bei anerzogenen Vorstellungen zu bleiben,
wie im Bereich der Religion.
Und anschließend würden nicht wenige
auch nach außen hin gegen den Strom schwimmen müssen.
Weil ihre Kinder früher oder später
mit traditionellen christlichen Lehren in Berührung kommen würden.
Und weil sie vielleicht sogar zu hören bekommen würden,
die Vorstellungen ihrer Eltern seien „nicht christlich“.
3. Möglichkeit: Sich gegen eine christliche Erziehung entscheiden
Den wirksamsten Schutz vor dem schädlichen Einfluss
von problematischen christlichen Lehren
bieten sicherlich Erziehungskonzepte ohne die christliche Religion.
Doch dazu werden sich Eltern kaum je entschließen können,
solange sie selbst Christen sind.
So werden viele christliche Eltern
ihren eigenen Glauben in Frage stellen müssen,
wenn sie ernsthaft nach Alternativen
zu gewissen christlichen Lehren suchen wollen.
Sie werden erheblichen inneren Widerständen begegnen,
wenn sie an nichtchristliche Alternativen denken –
aber vielleicht kaum minder,
wenn es um christliche Alternativen geht,
die sie bislang eher nicht als „christlich“ angesehen haben.
Hinzu kommt, dass es viel Zeit und Energie kostet,
sich über eine Reihe von Alternativen gründlich zu informieren
und sich damit auseinanderzusetzen.
Alles in allem keine leichte Aufgabe.
Aber wer sagt, die Erziehung von Kindern wäre immer leicht?
Verantwortungsbewusste Eltern machen es sich nicht leicht,
wenn es um wichtige Fragen der Erziehung ihrer Kinder geht.
Sie informieren sie sich gründlich
und denken ernsthaft und ergebnisoffen darüber nach.
Wenn Eltern religiöse Fragen für wichtig halten,
dann sollte das für sie auch in diesem Bereich
eine Selbstverständlichkeit sein.
Verantwortungsbewusste Eltern werden dann nicht „einfach“ das,
was sie von ihren Eltern und Lehrern gehört haben,
unbesehen an ihre Kinder weitergeben.
Vielmehr werden sie sich gründlich
über verschiedene Möglichkeiten informieren,
und über verschiedene Stellungnahmen zu diesen Möglichkeiten.
Nach Möglichkeit aus verschiedenen Quellen,
von Vertretern unterschiedlicher Standpunkte.
Und dann werden verantwortungsbewusste Eltern
ernsthaft und ergebnisoffen darüber nachdenken,
was sie ihren Kindern nahebringen wollen:
Die Lehren einer Religion?
Wenn ja, die Lehren welcher Religion
bzw. welcher Version einer Religion?
Oder wollen sie ihre Kinder lieber religionsfrei erziehen?
Unseren Kindern wünsche ich Eltern,
die sich der Verantwortung bewusst sind,
die sie mit einer solchen Entscheidung übernehmen.
Braunschweig, den 10. Februar 2012
(vervollständigt bis 5. Juni 2012
weiter ergänzt am 12. November 2012)
Irene Nickel
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Nachtrag:
Fragt da jemand, ob Kinder denn nicht selbst entscheiden sollen,
welche religiösen oder nichtreligiösen Vorstellungen
sie sich zu eigen machen?
Gewiss soll ihnen das nicht verwehrt werden.
Aber Kinder kommen nicht mit den erforderlichen Fähigkeiten auf die Welt.
Bis zu einem gewissen Entwicklungsstand
kann ein Kind nichts Klügeres tun,
als sich an das zu halten,
was es von den Menschen hört, denen es vertraut.
Die Entwicklung der Fähigkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden,
muss irgendwo anfangen.
Eltern sind dafür verantwortlich,
Kindern eine gute Ausgangsbasis zu vermitteln.
Braunschweig, den 8. Juni 2012
Irene Nickel
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