Irene Nickel

Die Bibel – ein inhumanes Buch (Teil 2)

Im 1. Teil dieses Aufsatzes habe ich eine Reihe von Belegen dafür angeführt, warum ich die Bibel für ein inhumanes Buch halte.
Zum Schluss stellte ich die Frage:

Wie gehen Christen
mit all diesen Inhalten der Bibel um?

Ein jeder Mensch, der Unrecht und Grausamkeit konsequent ablehnt,
hätte ein Problem damit, einen Gott von Herzen zu verehren,
der so grausam und so ungerecht wäre,
wie die Bibel ihren Gott beschreibt.

Darum haben Christen,
die den Gott der Bibel von Herzen verehren wollen,
ein Problem damit,
seine Ungerechtigkeit als Ungerechtigkeit zu erkennen
und seine Grausamkeit als Grausamkeit.

Ein emotionales Problem,
denn für viele Christen ist ihr Gott eine wichtige Bezugsperson,
die sie nicht verlieren wollen.

Ein religiöses Problem,
weil die Liebe zu Gott für Christen zugleich ein religiöses Gebot ist.
Matthäus 22, 36-37:

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen,
mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken.
Das ist das wichtigste und erste Gebot.

Ein religiöses Problem auch deshalb,
weil Güte und Gerechtigkeit Gottes zu den zentralen Dogmen
der biblisch-christlichen Religion gehören.
Psalm 135, 3:

Lobt den Herrn, denn der Herr ist gütig. Singt und spielt seinem Namen, denn er ist freundlich.

Deuteronomium = 5. Mose 32, 4:

... Gott, er ist gerecht ...

Christen haben also eine ganze Reihe von Gründen,
an der Vorstellung von einem gütigen und gerechten Gott
festhalten zu wollen.

Wie schaffen sie das angesichts der Tatsache,
dass die Bibel, die sie als Grundlage ihres Glaubens ansehen,
ihren Gott an vielen Stellen ganz anders beschreibt?
Oder wie gehen sie sonst damit um?

Dazu gibt es eine ganze Palette von Möglichkeiten.

1. Unkenntnis und selektive Wahrnehmung

Bei vielen Christen beschränken sich die Bibelkenntnisse
im Wesentlichen auf jene Stellen,
auf die sie in der Schule, in der Kirche
und vielleicht auch in christlichen Schriften
immer wieder hingewiesen worden sind.
In dieser Auswahl von Bibelstellen
fehlen viele, an denen Christen Anstoß nehmen könnten.

2. Herunterspielen der Bedeutung

Zu den Grausamkeiten des Alten Testaments,
beispielsweise zu den Geboten,
die einen exzessiven Gebrauch der Todesstrafe fordern,
wird von einigen Christen die Ansicht vertreten,
dass alles sei heute nicht mehr relevant.

Als Gründe werden u. a. angeführt:
– die Gebote hätten nur für das Volk Israel gegolten,
– sie seien durch Jesus außer Kraft gesetzt,
– sie gehörten zum „Alten Bund“, dem „Alten Testament“,
   der aber inzwischen durch den „Neuen Bund“, das „Neue Testament“,
   abgelöst worden sei,
– sie würden laut Apostelkonzil für Heidenchristen nicht gelten
   (Apostelgeschichte 15).

Für die Praxis der Gläubigen mögen solche Gebote
nicht mehr relevant sein –
dennoch sagen sie immer noch etwas Relevantes aus
über den Charakter dessen, von dem sie laut Bibel stammen,
nämlich über den Charakter des Gottes der Bibel.

Das ist heute noch von Bedeutung.
Denn es ist kaum möglich,
dass ein Mensch Grausamkeit und Ungerechtigkeit von Herzen verabscheuen
und zugleich einen Gott von Herzen lieben könnte,
der so grausame und ungerechte Gebote aufgestellt haben soll
wie der Gott der Bibel.

2.a) „Nur“ Fiktion (nachträglich ergänzt im Februar 2009)

Nach neueren Forschungsergebnissen gibt es erhebliche Diskrepanzen
zwischen den Erzählungen der Bibel
über die frühe Geschichte des Volkes Israel –
Auszug aus Ägypten, Eroberung des „verheißenen Landes“ –
und der historischen Realität.

Einige Verteidiger der Bibel sehen darin eine Möglichkeit,
Kritik an der Bibel zurückzuweisen.
Frau Prof. Dr. Marie-Theres Wacker schreibt:
1

... nicht auf dem Stand der Forschung. Dies gilt im übrigen auch für die Schriften anderer zeitgenössischer Kritiker des Monotheismus, etwa den Freiburger Psychologen Franz Buggle und den Kölner Philosophen Günther Schulte
    
(der sich übrigens „Günter Schulte“ schreibt),
die vor allem auf die extreme Gewaltbereitschaft, die durch das monotheistische Gotteskonzept gefördert werde, abstellen.
Ein prominentes Beispiel für solch fehlende Kenntnis des Forschungsstandes ist die Einschätzung der sogenannten Landnahme Israels. Der Vorwurf, die frühen Verfechter der Alleinverehrung JHWHs hätten die Völker des Landes und ihre Kulte systematisch zu vernichten gesucht, ist nicht haltbar, widerspricht er doch klar bereits dem archäologischen Befund;
...
Wir hätten es demnach also bei diesen so oft inkriminierten Erzählungen nicht mit der religiösen Verherrlichung einer blutrünstigen Vergangenheit zu tun, sondern mit fiktionaler Nationalgeschichtsschreibung in identitätssichernder Absicht. ...“,

Als ob damit die Kritik gegenstandslos würde!

Für die Wirkungen, die von diesen biblischen Erzählungen ausgingen,
ist es irrelevant,
ob alles tatsächlich so geschehen ist –
solange die Menschen nur davon überzeugt waren,
dass alles tatsächlich so geschehen sei.
Davon überzeugt waren Juden und Christen
bis weit ins 20. Jahrhundert hinein,
und viele sind es heute noch.
Viele Jahrhunderte lang konnte die Vorstellung,
dass Angriffskrieg und Völkermord gottgewollt sein könnten,
ungehindert auf die Gläubigen einwirken.
Viele Jahrhunderte lang konnten gläubige Juden und Christen
in den verbrecherischen „Helden“ der Bibel ihre Vorbilder sehen.

Die Ereignisse, die in den biblischen Erzählungen vorkommen,
mögen bloße Fiktion sein –
historische Realität ist die Verherrlichung
von Ereignissen dieser Art..
Real ist das beklagenswerte sittliche Niveau der Texte,
in denen Angriffskrieg und Völkermord gebilligt werden.
Texte, durch die die Bibel
als Quelle einer heute akzeptierbaren Ethik disqualifiziert ist.

3. Hinweis auf eine scheinbare Kompensation

Dem Übermaß an göttlichen Strafen
wird an vielen Stellen ein Übermaß an göttlicher Gnade und Güte gegenübergestellt.
So kann suggeriert werden,
das eine könnte durch das andere kompensiert werden.

Das kann es aber nicht.
Demjenigen, der von einem ungerechten Übermaß an Strafe betroffen ist,
nützt es nichts,
wenn jemand anders ein Übermaß an Gnade und Güte erfährt.
Er bekommt nur die ungerechte Strafe und keine Kompensation.

4. Versprechen einer Kompensation im Jenseits

Einmal abgesehen von der Frage,
wie glaubhaft denn ein solches Versprechen sein mag:
Alles Gute,
was einem Menschen im Jenseits als „Kompensation“
geboten werden könnte,
all das könnte ihm ein allmächtiger Gott auf jeden Fall bieten,
unabhängig davon,
ob er ihn vorher mit unerträglichem Leiden gequält hat oder nicht.
Er hätte keinerlei Grund,
den Menschen vorher im Übermaß leiden zu lassen,
und wenn er gütig wäre, würde er es nicht tun.

5. Abwälzung der Verantwortung für exzessive Strafen

Es kommt vor, dass Christen erklären,
übermäßig schwere Strafen seien doch kein Problem,
weil man ihnen ja leicht entgehen könnte:
Man bräuchte sich ja nur an die Gebote zu halten.

Als läge damit die alleinige Verantwortung für die Strafe
bei demjenigen, der ein Gebot übertritt.
Als würde dadurch derjenige, der eine Strafe verhängt,
von jeglicher Verantwortung entbunden.

Dem ist entgegenzuhalten:

Wenn jemand eine Strafe verhängt,
dann ist er verantwortlich dafür, welche Strafe er verhängt.
Wenn er eine Strafe verhängt,
die übermäßig schwer und deswegen ungerecht ist,
dann ist er verantwortlich für diese Ungerechtigkeit.

6. Umdeutung

Einige Christen versuchen,
die Grausamkeit bestimmter Bibelstellen abzumildern,
indem sie erklären, diese Stellen seien symbolisch zu deuten.
So sei die Hölle, die in der Bibel als „ewiges Feuer“ beschrieben wird,
nur ein Bild für die Ferne von Gott.

Die Frage ist dabei:
Handelt es sich um ein treffendes Bild oder nicht?

Wenn ja, dann beschreibt es etwas,
das so schlimm ist wie ein ewiges Feuer –
und was hätte man dann davon, dass es „nur“ ein Bild ist?

Wenn nein,
wenn in der Bibel mit dem Bild eines „ewigen Feuers“
etwas beschrieben wird, was viel harmloser ist,
dann ist das, was da in der Bibel steht, ein leeres Gerede.

Die Umdeutung der Bibel hat eine lange Geschichte.
In der frühen Neuzeit kamen Naturwissenschaftler zu Ergebnissen,
die im Widerspruch standen zu naturkundlichen Aussagen der Bibel.
Damals argumentierte schon Galilei:

Es liege nicht in der Absicht der Bibel,
uns über wissenschaftliche Theorien zu unterrichten.
Man könne doch im Allgemeinen davon ausgehen,
dass die Bibel dort,
wo sie dem gesunden Menschenverstand widerspreche,
allegorisch zu verstehen sei. 2

Auf diese Weise kann man im Prinzip jede Bibelstelle,
mit der man ein Problem hat, entschärfen.
Die Frage ist nur:
Kann man sich dann noch auf die Bibel berufen
und dabei glaubwürdig bleiben?

So gibt es denn unter Christen unterschiedliche Meinungen,
wo eine solche symbolische Deutung zulässig ist und wo nicht.

Weit verbreitet ist eine symbolische Deutung der Schöpfungsgeschichten;
sie ist in Deutschland seit langem allgemein üblich.

Auch eine symbolische Deutung der Hölle als Gottesferne
hat eine gewisse Verbreitung gefunden.

Zumal sie sich auf eine Bibelstelle stützen kann,
Amos 8, 11-12:

Seht, es kommen Tage – Spruch Gottes, des Herrn –,
da schicke ich den Hunger ins Land,
nicht den Hunger nach Brot, nicht Durst nach Wasser,
sondern nach einem Wort des Herrn.

Dann wanken die Menschen von Meer zu Meer,
sie ziehen von Norden nach Osten,
um das Wort des Herrn zu suchen;
doch sie finden es nicht.

Diese Bibelstelle hat allerdings zwei Seiten:
Einerseits unterstützt sie die Deutung der Hölle als Gottesferne –
andererseits entzieht sie christlichen Versuchen den Boden,
die Grausamkeit der Hölle herunterzuspielen.

Grausam ist diese Art von Hölle
freilich nicht durch die Gottesferne an sich.
Grausam ist diese Art von Hölle
dadurch, dass künstlich ein starkes Bedürfnis erzeugt wird
mit dem Ziel,
die Nichterfüllung dieses Bedürfnisses zur Qual zu machen.

Damit zeigt sich die Fragwürdigkeit einer Erwiderung,
die einige Christen für den Fall parat haben,
dass Atheisten Kritik üben
an der christlichen Lehre, nach der Ungläubige in die Hölle kommen.
Einige Christen erwidern dann gern:
„Was beklagt ihr euch eigentlich?
Die Hölle ist Gottesferne,
und genau dafür habt ihr euch doch selbst entschieden!“

Eine Erwiderung, die völlig an dem vorbei geht,
was mich als Atheistin stören würde
an einer Hölle, die der Beschreibung bei Amos entspräche.

Erstens würde mich die Manipulation stören,
der massive Eingriff in mein Gefühlsleben,
der mir da angekündigt wird:
dass in mir ein starkes Bedürfnis erzeugt werde,
das völlig im Widerspruch stünde zu allem, was ich denke und fühle;
ein Bedürfnis, das meiner Persönlichkeit so fremd wäre
wie einem Nicht-Drogensüchtigen das Bedürfnis nach einer Droge.

Und zweitens würde mich stören,
dass ich durch das künstlich erzeugte starke Bedürfnis,
wie fremd auch immer es meiner Persönlichkeit wäre,
dennoch unter quälenden Entzugserscheinungen leiden würde.

Die Grausamkeit einer Hölle
wie in der Beschreibung des Amos
ist weniger offensichtlich
als die Grausamkeit eines ewigen Feuers,
wie es Jesus verkündete.

Einigen Christen scheint das zu genügen,
um eine Hölle wie in der Beschreibung des Amos
problemlos akzeptieren zu können.

7. Entmythologisierung: Umdeutung als Programm

Eine symbolische Deutung der Bibel,
um Probleme mit einer wörtlichen Deutung zu vermeiden,
das halten einige Christen
nur in wenigen bestimmten Fällen für zulässig,
etwa bei den Schöpfungsgeschichten.
Weitergehende symbolische Deutungen würden
ihrem Verständnis von der Autorität der Bibel widersprechen.

In der modernen Theologie gibt es jedoch auch eine Richtung,
oder vielmehr ein ganzes Bündel von Richtungen,
deren Vertreter eine umfassende Umdeutung von Bibeltexten
zu symbolisch zu verstehenden Texten
für zulässig, ja für notwendig halten.
Sie nennen das „Entmythologisierung“.

Dazu schreibt Hans Küng in „Christ sein“ auf Seite 258:

Eine nicht eliminierende, sondern interpretierende Entmythologisierung meint eine Übersetzung der Botschaft aus der damaligen Situation, dem damaligen Wirklichkeitsverständnis, dem damaligen mythologischen Weltbild in unsere heutige Situation, in das heutige Wirklichkeitsverständnis, in das moderne Weltbild hinein.

Diese programmatischen Aussagen
könnten wohl viele Vertreter der Entmythologisierung unterschreiben.
Wie weit man dabei gehen darf und soll,
diese Frage im Einzelnen zu beantworten ist schon schwieriger.
Bei einer sehr weitgehenden Entmythologisierung
könnten ja wesentliche Inhalte der Bibel eliminiert werden.

Das ist einem Theologen wie Hans Küng offenbar bewusst.
Weiß man das, kann man mit Staunen lesen,
was Küng dann doch so alles schreiben kann.
Etwa zum Tode Jesu:
S. 515 f:

Lässt sich bestreiten, dass gerade der Begriff des Sühneopfers zumindest in populären Vorstellungen oft geradezu peinliche heidnische Missverständnisse aufkommen ließ: als ob Gott so grausam, ja sadistisch sei, dass sein Zorn nur durch das Blut seines eigenen Sohnes besänftigt werden könne? Als ob ein Unschuldiger als Sündenbock, Prügelknabe und Ersatzmann für die eigentlichen Sünder dienen müsse?

Wie er da die traditionelle biblische Kreuzestheologie
zu einem „peinlichen Missverständnis“ erklärt,
das gibt einen Eindruck,
wie weit sich mancher Theologe bei der „Entmythologisierung“
von wesentlichen Inhalten der Bibel entfernen kann.

8. Abwälzung der Verantwortung für Leiden von Mensch und Tier

Einige Christen erklären gern,
für die Leiden von Mensch und Tier sei nicht Gott verantwortlich,
sondern die Menschen,
denen Gott einen freien Willen gegeben habe.

Dazu ist erstens zu sagen,
dass die Menschen zwar an vielem schuld sind,
aber nicht an allem Leiden der Welt.

Und zweitens,
dass eine in manchen Fällen gegebene Verantwortung von Menschen
die Verantwortung eines Gottes für unterlassene Hilfeleistung
nicht ausschließt.

Wie weit eine solche Verantwortung besteht,
das hängt davon ab,
welche Möglichkeiten der Hilfeleistung der betreffende Gott hätte.

Ein allmächtiger Gott hätte alle Möglichkeiten der Hilfeleistung,
alle Möglichkeiten, Schäden abzuwenden.
Er wäre mitverantwortlich für alles, was geschieht.
Einschließlich dessen, was geschieht,
wenn er Menschen mit einem freien Willen versehen
und dann ohne alle Einschränkungen gewähren lassen würde.

In diesem Falle dürfte man sich darüber wundern,
wie dieser Gott dem freien Willen von Mördern, die morden wollen,
Vorrang gäbe vor dem freien Willen von Opfern, die leben wollen.

9. Verzicht auf das Dogma von der Allmacht Gottes

Eine ganze Reihe von Problemen mit ihrem Gott
können Christen mit einem Schlag loswerden,
wenn sie dem Dogma von der Allmacht Gottes
eine Absage erteilen.

Ein machtloser Gott, der gar nichts ändern könnte,
wäre nicht mehr verantwortlich:
nicht für all das Schlimme, was geschieht,
und auch nicht für all die Grausamkeiten,
die er – laut Bibel – geboten, verübt oder angedroht haben soll.

Besonders entschieden hat sich die evangelische Theologin
Dorothee Sölle
vom Dogma der Allmacht Gottes losgesagt: 3

An diesem Thema, der Allmacht Gottes, habe ich jahrelang kritisch herumgedacht. Omnipotenz ist nicht das Höchste, was man von Gott sagen kann, und der Allmachtswahn hat in der Geschichte des Christentums vor allem Unglück erzeugt.

Das war ihre Antwort auf ein Problem, das sie sehr beschäftigte:

Das war der Widerspruch einer jungen Frau, die mit dem Horror der Nazizeit nicht so schnell fertig wurde wie die herkömmliche Theologie, die ungestört von den realen Ereignissen weiterhin von der unbegrenzten Macht Gottes träumte und eine Frömmigkeit der Ergebung pries, ohne jeden Widerstand. Hatte denn Gott, so meine Ausgangsfrage, auch in Auschwitz „alles so herrlich regieret“? Hätte er eingreifen können, zog es aber vor zu schweigen oder wegzusehen? War er wirklich „der Allmächtige“, von dem ich als Kind Hitler in den letzten Jahren des Krieges manchmal mit röhrender Stimme reden hörte?

Dorothee Sölle schrieb den Satz:

Gott hat keine anderen Hände als unsere.

Dieser Satz erfreut sich unter modernen Christen einiger Beliebtheit.
Ich fand ihn, in etwas unterschiedlichen Formulierungen,
an den unterschiedlichsten Stellen:
bei Franz Alt („Liebe ist möglich“, S. 44),
in einem evangelischen Religionsbuch für die Grundschule
und sogar auf einer Stellwand im Dom zu Fulda.

Christen, die sich konsequent an diesen Satz halten,
sind vieler Probleme ledig,
die durch den Gott der Bibel aufgeworfen werden.

Sie müssen sich allerdings die Frage gefallen lassen:
Ist es denn überhaupt noch der Gott der Bibel, den sie anbeten?

Zur Klarstellung:
Ich teile nicht die Auffassung, dass Christen verpflichtet wären,
sich in allen Glaubensfragen nach der Bibel zu richten.
Ob Christen ihre Vorstellungen von Gott
aus der Bibel beziehen,
ob sie Vorstellungen von modernen Theologen übernehmen
oder eigene Vorstellungen entwickeln,
das steht – aus meiner Sicht – den einzelnen Christen frei.
Ich stelle lediglich fest,
das Christen nicht beides haben können:
sich beliebig weit von den Vorstellungen der Bibel entfernen
und sich dennoch zu Recht auf die Bibel berufen.

10. Verzicht auf Erklärungsversuche

Die Ereignisse, die Dorothee Sölle so nachdenklich machten,
sind allgemein bekannt.
Dennoch ziehen nicht alle Christen die gleichen Konsequenzen.
Selbst Theologen, die als progressiv gelten,
halten zum Teil daran fest,
dass ihr Gott „allmächtig und allgütig“ sei.

So der katholische Theologe Hans Küng.
(in „Christ sein“, S. 520)
Im gleichen Buch beschäftigt er sich mit dem Theodizee-Problem,
mit der Frage, wie all das Leiden in der Welt zu erklären wäre,
wenn man von der Voraussetzung ausgeht,
es gebe einen allmächtigen und allgütigen Gott.
(S. 521)

Hans Küng kann zugute gehalten werden,
dass er nicht versucht,
sich mit fragwürdigen Erklärungsversuchen herauszureden.
Er gibt zu, dass er keine Erklärung hat,
S. 528:

Durch Leiden soll der Mensch zum Leben gelangen. Warum das so ist, warum das für den Menschen gut und sinnvoll ist, warum es nicht ohne Leid besser ginge, das kann keine Vernunft erweisen.

Durch diese Erkenntnis lässt Küng sich freilich nicht beirren.
gleich im nächsten Satz verkündet er, eine Erklärung sei gar nicht erforderlich:

Das kann aber vom Leiden, Sterben und neuen Leben Jesu im Vertrauen auf Gott schon in der Gegenwart als sinnvoll angenommen werden, in der Gewissheit der Hoffnung auf ein Offenbarwerden des Sinnes in der Vollendung.

Mit einer solchen Vertröstung auf später kann sich ein Christ,
den die Frage nach den Leiden der Welt bewegt,
freilich nur dann zufrieden geben,
wenn er das Vertrauen, von dem Küng spricht, bereits hat.

Der Hinweis auf Jesu Leiden, Sterben und „neues Leben“
mag für einen Christen sehr eindrucksvoll und emotional bewegend sein,
wenn er im Leiden und Sterben Jesu
eine Tat der unermesslichen Liebe Gottes sieht
und in Jesu „neuem Leben“ eine Realität.

Jedoch:
Um zu glauben,
dass Jesu Leiden und Sterben wirklich eine Liebestat sei
und nicht einfach ein Teil all des sinnlosen Leidens dieser Welt,
und um zu glauben,
dass Jesu „neues Leben“ eine Realität sei
und nicht nur eine Legende aus einer abergläubischen Zeit und Kultur
und auch nicht nur ein symbolischer Ausdruck
für die Aussage, die Sache Jesu gehe weiter –
um all das zu glauben,
braucht der Christ bereits ein hohes Maß an Vertrauen.

Für dies Vertrauen macht Küng denn auch eifrig Stimmung.
Auf S. 357 verspricht er,
darin finde „der leidende, zweifelnde, verzweifelte Mensch“
einen „letzten Halt“.
Er preist das „ungesicherte und doch befreiende Wagnis“
des „unbedingten und restlosen Vertrauens“:
damit lasse sich das Leid „zwar nicht ‚erklären’, aber bestehen“.

Das scheint an starke menschliche Sehnsüchte zu rühren.
Stark genug, um heutige Christen zu veranlassen,
ein „ungesichertes Wagnis“
für etwas Wünschenswertes, ja Großartiges zu halten.

Der Faszination eines „unbedingten und restlosen Vertrauens“
erliegen selbst Christen wie Hans Küng,
ein Theologe, der sonst gern in Anspruch nimmt,
der Glaube an Gott sei „begründet“,
eine „rational verantwortete Entscheidung“
und lasse sich „gegenüber einer rationalen Kritik rechtfertigen“ (S. 83).

Diesen Anspruch auf Rationalität hält Küng jedoch nicht durch,
wenn es zur Theodizee-Frage kommt,
jenem klassischen Beispiel für eine rationale Kritik
an der Lehre vom allmächtigen und zugleich gütigen Gott.
Selbst ein Christ wie Hans Küng
reagiert da mit Abwehr auf kritisches Fragen und rationales Urteilen,
will beides als (vermeintlich unverdientes) „Misstrauen“
oder gar als „Anmaßung“ in Misskredit bringen (S. 357).

Christen wie Hans Küng haben es aufgegeben,
das Theodizee-Problem mit einem rationalen Ansatz lösen zu wollen.
Sie suchen gar nicht mehr nach rationalen Argumenten,
um die Argumentation,
dass die Lehre vom allmächtigen und zugleich gütigen Gott
widerlegt sei durch all das Leiden in dieser Welt,
in der Sache zu entkräften.

Stattdessen lenken sie ihre Aufmerksamkeit auf eine Beziehungsfrage,
auf die Qualität der Beziehung zu ihrem Gott.
„Unbedingtes und restloses Vertrauen“
soll, ihrer Meinung nach, diese Beziehung prägen.
Damit meinen sie,
ein Argument gegen das Theodizee-Problem zu haben –
nicht, um es in der Sache zu entkräften,
sondern um es für irrelevant zu erklären und beiseite zu schieben.

Das Beiseiteschieben eines Problems,
das geeignet ist, die eigene Auffassung zu widerlegen,
bedeutet einen – zumindest partiellen – Abschied vom rationalen Denken.

So empfiehlt Küng das „Wagnis“ des unbedingten Vertrauens
denn nicht, weil Tatsachen und rationale Überlegungen dafür sprächen,
sondern wegen eines angeblichen emotionalen Gewinns:
Befreiung, Bestehen des Leides, einen „letzten Halt“.

Das ist nichts anderes als eine moderne Variante
der berühmten „Pascalschen Wette“:
Pascal empfahl,
unabhängig von Tatsachen und rationalen Schlussfolgerungen zu glauben,
um die Chance zu bekommen, die ewige Seligkeit zu erlangen.
Küng empfiehlt,
unabhängig von Tatsachen und rationalen Schlussfolgerungen zu glauben,
um einen diesseitigen Gewinn für sein Gefühlsleben zu erlangen.

11. Zu allem Ja und Amen sagen

Einige Christen von heute haben, trotz mancher Irrationalitäten,
doch ein gewisses Maß an rationalem Denken bewahrt
und ein gewissen Maß an Sensibilität
für Grausamkeit und Ungerechtigkeit, auch in den Bibeltexten.

Es gibt aber auch Christen,
die beides in schmerzlichem Maße vermissen lassen,
sobald es um die Bibel geht,
um „Gottes Wort“, dessen Autorität sie bedingungslos anerkennen
und auf keinen Fall in Frage gestellt wissen wollen.

Das hat erhebliche Konsequenzen für ihr Denken und Urteilen,
und auch für ihr Empfinden.
Selbst Christen, die einen netten und friedfertigen Eindruck machen,
finden nichts Verkehrtes daran,
dass Abraham bereit gewesen sein soll,
aus religiösen Gründen seinen Sohn Isaak zu ermorden.
(Genesis = 1. Mose 22,1 ff)
Sie halten das für eine Geschichte,
die man ohne weiteres kleinen Kindern erzählen könne.

Ebenso die Geschichte von der Sintflut.

Oder die Geschichte vom unschuldigen Leiden und Sterben Jesu:
Dass, laut Bibel, Gottes Grausamkeit und Ungerechtigkeit
nicht einmal vor dem eigenen Sohn Halt machten,
das mag, im Vergleich zum Massensterben bei der Sintflut,
ethisch gesehen zweitrangig sein,
emotional ist es jedoch von großer Bedeutung.

Bei einem solchen Mangel an Sensibilität
frage ich mich:
Liegt es an der biblisch-christlichen Religion,
die diesen Menschen die Sensibilität ausgetrieben hat,
oder waren diese Menschen von vornherein so wenig sensibel,
dass sie eine solche Religion problemlos akzeptieren konnten?

Bei manchen Christen geht der Mangel an Sensibilität so weit,
dass sie alles, aber auch alles für „gerecht“ erklären,
was ihr Gott laut Bibel getan und angeordnet haben soll –
ob es um die Sintflut geht
oder um den Vernichtungskrieg unter Josua
bei der Eroberung des „verheißenen Landes“.

Oder um die vielen Gebote zum exzessiven Gebrauch der Todesstrafe. 
Wir können von Glück sagen, dass heutzutage
selbst die harten Fundamentalisten unter den Christen
es in aller Regel nicht mehr für richtig halten,
solchen Aufrufen zum Mord tatsächlich Folge zu leisten.
Die zivilisatorische Kraft der heutigen Alltagsmoral –
die der biblischen Moral haushoch überlegen ist –
ist selbst auf diese Leute nicht ohne Wirkung geblieben.

In die Erleichterung darüber mischt sich Besorgnis,
wie wenig tragfähig die positiven Wirkungen der Alltagsmoral
bei einigen christlichen Fundamentalisten sind.
Die Maßstäbe dieser Alltagsmoral
mögen sie auf alltägliche Situationen anwenden,
bei Inhalten der Bibel merkt man wenig davon.

Nicht einmal der Vernichtungskrieg,
den – laut Bibel – Josua und seine Horde von Israeliten
beim Einmarsch ins „Gelobte Land“ geführt haben sollen,
wird da als Verbrechen wahrgenommen.

Frank Schulz im NIKODEMUS.NET (inzwischen abgeschaltet)
bemerkte dazu zwar lahm:

Ich muss ehrlich sagen, dass ich froh bin, nicht mehr auf diese Art gegen Sünde kämpfen zu müssen.

Trotzdem stellte er den Völkermord als angeblich notwendig dar:

Gott macht deutlich, dass die Sünde der Bewohner Kanaans ihr „Vollmaß“ erreicht hat (3.Mose 20,23, 5.Mose 9,5) - mehr ist er nicht bereit hinzunehmen. Bereits im 5. Buch Mose hat er Anweisungen für die Landnahme gegeben (5.Mose 7,1). Er konnte es nicht länger zulassen, dass von diesem Land soviel Verderben ausging und sein Volk womöglich durch den Götzendiensten der Einheimischen vom Glauben an ihn abfallen könnte.

... Man darf auch nicht vergessen, dass die in Kanaan verbreiteten Religionen keine harmlosen Naturreligionen, sondern oft mehr als abscheuliche Kulte waren: Menschenopfer waren an der Tagesordnung, und die Menschen mussten furchtbare Dinge tun, um ihre Götter zu besänftigen.

Rainer Gross im NIKODEMUS.NET
erklärte den Völkermord zur „folgerichtigen“ Konsequenz
aus einem Gebot, das Götzendienst unter Todesstrafe stellt:

Ständig besteht die Gefahr, durch die kanaanitische Religion zum Götzendienst verführt zu werden und damit vom wahren Gott abzufallen. Innerhalb Israels ist Götzendienst bei Todesstrafe verboten. ... heidnische Rituale, insbesondere das Menschenopfer ...

Und so ist die von Gott befohlene Ausrottung des Götzendienstes in Kanaan folgerichtig ...

Was ist bloß mit Menschen los,
die nicht sehen, dass die Massenmorde von Josua und seiner Horde
Verbrechen sind, die alles in den Schatten stellen,
was die Bewohner Kanaans an Verbrechen begangen haben könnten?
Sodass die kleineren Verbrechen der Bewohner Kanaans
niemals eine Notwendigkeit für die größeren Verbrechen unter Josua
herstellen könnten.
Und dass die kleineren Verbrechen
auch sonst keine Rechtfertigung für die Verbrechen unter Josua
liefern könnten,
weder unter dem Gesichtspunkt einer „gerechten Strafe“
noch unter dem Gesichtspunkt eines zu befolgenden Gesetzes
(„Götzendienst bei Todesstrafe verboten“),
eines Gesetzes, das selbst zutiefst ungerecht ist.
Was ist bloß mit Menschen los, die all das nicht zu sehen scheinen?

Antworten waren bei den gleichen Autoren im NIKODEMUS.NET zu finden,
u. a. Rainer Gross:

Ob es uns nun passt oder nicht: Genau das, ist der Gott der Bibel! Wir können an ihn glauben oder nicht, aber wenn wir uns entschlossen haben, an ihn zu glauben, dann müssen wir ihn so sehen, wie er ist. Und dann müssen wir auch davon ausgehen, dass unsere Sicht von Gerechtigkeit, von Barmherzigkeit, Vergebung und all den anderen Dingen, die uns im Grunde zu hoch sind, verzerrt ist.

Verzerrt, weil wir Menschen sind, die in einer Welt und mit einem Ich aufgewachsen sind, das von Gott naturgemäß nichts weiß – und auch nichts wissen will. Und dann müssen wir auch bereit sein zuzugeben, dass wir nicht wirklich wissen, was Gerechtigkeit in Wahrheit ist, und unsere Sicht korrigieren zu lassen.

Das heißt:
Durch seine Religion wird ein solcher Mensch daran gehindert,
zu jenem Rest an ethischem Urteilsvermögen zu stehen,
der ihm geblieben sein mag.

Aus einer solchen ethischen Bankrott-Erklärung
entsteht eine unbegrenzte Bereitschaft, Unrecht „Recht“ zu nennen,
wenn es nur von einer bestimmten Seite her kommt.

Wir können froh sein, dass christliche Fundamentalisten dieser Art
in unserem Lande eine machtlose Minderheit sind.

Aber:
„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“,
solange junge Menschen in Schule und Kirche zu hören bekommen,
die Bibel sei „Gottes Wort“
und in ethischen Fragen die höchste Autorität.

Braunschweig, den 15. Dezember 2004

Irene Nickel
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 1 Der biblische Monotheismus –
seine Entstehung und seine Folgen
Disclaimer,
Prof. Dr. Marie-Theres Wacker,
Universität Münster, Seminar für Theologische Frauenforschung

2 Stephen W. Hawking, „Eine kurze Geschichte der Zeit.
Die Suche nach der Urkraft des Universums“, S. 221

3 Dorothee Sölle: Eine theologische Bilanz
(nach einer Einleitung von Rudolf Linßen), Stand 14.12.04

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