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Theodizee – ein Aufsatz in 3 Teilen:

       1. Teil: Das Problem

       2. Teil: Angebliche Entbehrlichkeit von Lösungen

       3. Teil: Angebliche Lösungen
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Irene Nickel

Theodizee III:
Angebliche Lösungen für das Theodizee-Problem
 

Rückschau:

Im 1. Teil wurde das Theodizee-Probm
eingeführt und von verschiedenen Seiten beleuchtet.
Es wurde eine rational und ethisch vertretba
lere Lösung gezeigt:
die Schlussfolgerung,
dass es einen allmächtigen und gütigen GottTP
1
nicht gibt.

Im 2. Teil wurden Positionen von Menschen dargestellt,
die es als legitim ansehen,
auch ohne Lösung des Theodizee-Problems
festzuhalten am Glauben an einen allmächtigen und gütigen GottTP.

 

Hier im 3. Teil

sollen nun Versuche vorgestellt werden,
das Theodizee-Problem so zu lösen,
dass ein Festhalten
am Glauben an einen allmächtigen und gütigen GottTP
2
gerechtfertigt erscheint.
 

„Warum lässt Gott das zu?“ 

Antworten auf diese Frage werden bisweilen
als Antworten auf das Theodizee-Problem ausgegeben.

Die Toten am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt

Am 26. April 2002 hatte ein ehemaliger Schüler
dort 16 Menschen erschossen und schließlich sich selbst.

Ein Religionslehrer des Gymnasiums, Andreas Lindner,
wurde dazu gefragt:

Kam im Religionsunterricht die Frage auf,
wie Gott denn so eine Katastrophe zulassen könne?

Darauf Lindner:

Ich habe die sogenannte Theodizee-Frage
nicht von selbst angesprochen,
weil ich wusste, sie kommt automatisch auf mich zu.
Und die Antwort hatten interessanterweise die Schüler.
Ein Mädchen, das einen Schuss ins Knie erhalten hatte
und in dem Bewusstsein lebt, dass es tot wäre,
wenn die Kugel nur 40 Zentimeter höher gegangen wäre, sagte: „Gott war an diesem Tag in der Schule!
Wenn Gott nicht da gewesen wäre,
dann wäre das Ganze noch viel schlimmer geworden.“

Alle Schüler wussten, dass die zweite Waffe,
die der Täter mitführte, merkwürdigerweise technisch defekt war.
Der erste Schuss hatte sich verklemmt.
Wäre dies nicht der Fall gewesen,
hätte die Waffe mit viel Munition und großer Feuergeschwindigkeit
noch zu zahllosen anderen Opfern ... geführt.
      
gespeichert am 11.8.2005, Link nicht mehr aktiv

Diese Antwort mag Gläubige zufrieden stellen,
die ihrem Gott ohnehin nicht viel mehr zutrauen
als die Fähigkeit,
ab und an beim Zustandekommen
eines vermeintlichen glücklichen Zufalls nachzuhelfen.

Eine befriedigende Lösung des Theodizee-Problems
ist sie nicht.
Nicht einmal für den Fall des Amoklaufs von Erfurt.
Der allmächtige GottTP,
um den es beim Theodizee-Problem geht,
hätte mehr bewirken können
als den technischen Defekt an der einen Waffe.
Nur zum Beispiel das technische Versagen beider Waffen.
Er hätte auch eine elegantere Lösung herbeiführen können,
eine Lösung, die an den Ursachen angesetzt hätte,
statt an den Symptomen herumzukurieren.

Wer sich mit der Antwort der Erfurter Schülerin
des Theodizee-Problems entledigen will,
entledigt sich zugleich des Glaubens an den allmächtigen GottTP.

Die Antwort der Erfurter Schülerin
liefert keine Rechtfertigung
des Glaubens an einen allmächtigen und gütigen GottTP.
 

Ein Kind ist gestorben

Erst vier Monate alt war Jannik,
als er nach einer schmerzhaften Krankheit starb.

Seine Mutter, Anja Schröder,
kommt zu Wort auf der Seite „Verwaiste Eltern“
der Homepage der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde
„Der Gute Hirte zu Hamburg-Jenfeld“.
Sie „zitiert“ dort einen angeblichen indianischen Weisen:

Weine nicht, weil Du meinst Du habest für immer die schönste Blume in Deinem Garten verloren.
...
Ihr sind viele der traurigen und kummervollen Geschehnisse
auf Erden erspart geblieben, manche Grausamkeiten
und viele, viele verderbliche Einflüsse.
Dein Kind wird all das nie kennenlernen.
Freue Dich, dass einer jungen Seele die Freiheit geschenkt wurde,
die durch das Elend, das Deine Welt heimsucht,
nie bekümmert werden wird.
...
Wisse, dass ein liebender Gott dem Kind Engel schenkt hat,
die es schützen werden ...
      http://www.gutehirte.de/verwaist.htm
Disclaimer
      gespeichert am 9.8.2005,
      Link führt nicht mehr zum ursprünglichen Inhalt.

Mit dem Gedanken, dass dem Kind Schlimmes erspart geblieben ist,
mag Anja Schröder sich trösten
und sich den Glauben an einen liebenden Gott bewahren.

Das muss nicht heißen,
dass sie, wie Andreas Lindner, den Anspruch erheben würde,
sie hätte eine Antwort auf die Theodizee-Frage.

Eine überzeugende Antwort könnte sie nicht haben
ohne eine Antwort auf die Frage,
ob ein allmächtiger GottTP nicht bessere Möglichkeiten gehabt hätte,
dem Kinde Schlimmes zu ersparen.
Hätte er den kleinen Jannik nicht heilen können?
Hätte er nicht dafür sorgen können,
dass Jannik so glücklich leben kann wie viele andere Menschen?
 

„Anderenfalls wäre alles noch schlimmer gekommen“,

das ist der Grundgedanke vieler Versuche,
das Theodizee-Problem zu lösen.

Nicht immer, so wird argumentiert, sei es ein Beweis mangelnder Güte,
wenn jemand einem Menschen Leiden zufüge.
Es könne ihm darum gehen, Schlimmeres abzuwenden.

Beispielsweise
könnte ein gütiger Arzt sich entschließen,
eine schmerzhafte Behandlung vorzunehmen,
um seinen Patienten vor schlimmeren Schmerzen zu bewahren
und/oder sein Leben zu erhalten.

Richtig – aber was bedeutet das für das Theodizee-Problem?
Nichts.
Vergleiche dieser Art
zwischen einem Menschen und einem allmächtigen Gott
hinken gerade da, wo sie etwas zeigen sollen.

Ein menschlicher Arzt hat manchmal keine Möglichkeit,
dem Patienten zu helfen,
ohne ihm Schmerzen zuzufügen.

Ein allmächtiger Gott hingegen hätte in jedem Fall die Möglichkeit,
dem Patienten zu helfen, ja ihn zu heilen,
ohne ihm Schmerzen zuzufügen.
Und wenn er gütig wäre, dann würde er das tun wollen.
 

Laienhafte Theodizee-Versuche dieser Art
ignorieren die Vielfalt an Möglichkeiten,
die einem allmächtigen Gott zur Verfügung stünden.

Wer seinem Gott nicht mehr zutraut
als das, wovon in Theodizee-Versuchen dieser Art die Rede ist,
spricht ihm die Allmacht ab.

Das mag vielen Gläubigen nicht bewusst sein.
Sie können in aller Aufrichtigkeit beteuern,
sie würden an einen allmächtigen Gott glauben –
aber wenn es darum geht,
zu einer konkreten Situation etwas zu sagen,
dann reden sie,
als wenn sie seine Macht für einigermaßen begrenzt halten.
 

Mit Theodizee-Versuchen dieser Art
kann man zu Lösungen des Theodizee-Problems gelangen,
in denen auf das Dogma von der Allmacht Gottes verzichtet wird.

Nicht jedoch zu Lösungen des Theodizee-Problems,
in denen sowohl an der Allmacht als auch an der Güte Gottes festgehalten wird.

 

Allmacht 

Einem allmächtigen Gott müsste man wesentlich mehr zutrauen
als einem Menschen – aber was genau?

Für einen Menschen
kann sich immer wieder einmal die Notwendigkeit ergeben,
etwas an sich nicht Wünschenswertes, ein „Übel“,
in Kauf zu nehmen,
um ein schlimmeres Übel abzuwenden.

Aber für einen allmächtigen Gott?
Könnte er nicht jedes Übel abwenden,
einschließlich des Übels, das ein Mensch dafür in Kauf nehmen müsste?
Könnte er nicht alles Gute und Wichtige erreichen,
einschließlich der Vermeidung von Übeln,
die ein Mensch dafür in Kauf nehmen müsste?

Kurz:
Gibt es irgendwelche Notwendigkeiten,
denen auch ein allmächtiger Gott unterworfen wäre?

Das ist die Frage:
Was bedeutet eigentlich Allmacht?

Könnte ein allmächtiger Gott alles verwirklichen,
was ihm gerade wünschenswert erscheint?
Oder gäbe es Einschränkungen?
Wäre er vielleicht an die Naturgesetze gebunden?
Oder an die Gesetze der Logik?
 

Logik

Könnte ein allmächtiger Gott
einen ledigen Ehemann erschaffen?
Einen rein seidenen Wollstrumpf?
Ein Dreieck mit vier Ecken?
Eine Zahl, die größer wäre als 5 und zugleich kleiner als 2?

Nach den Gesetzen der Logik könnte er das nicht.
Nach den Gesetzen der Logik
kann nur das wirklich sein,
was mit den Gesetzen der Logik vereinbar ist.
Alles andere
kann nicht wirklich sein
und folglich auch nicht herbeibeführt werden.
Durch nichts und von niemandem.

Niemand könnte also allmächtig sein,
müsste er dazu etwas herbeiführen können,
was mit den Gesetzen der Logik unvereinbar ist.

Eine Definition von Allmacht,
die diese Fähigkeit einschließen würde,
hätte nach den Gesetzen der Logik zur Folge,
dass ein allmächtiger Gott
überhaupt nicht existieren könnte.
 

Wider die Logik?

Nun kann man alles anzweifeln,
sogar die ausnahmslose Gültigkeit der Gesetze der Logik.

Jemand könnte sich auf den Standpunkt stellen,
eine bestimmte Heilige Schrift sei „Gottes Wort“,
auf das er mehr vertraue als auf die Gedanken von Menschen.
Wenn dort geschrieben stehe,
dass Gott sich als „der Allmächtige“ offenbart habe 3,
dann könne das nur eines heißen:
dass er ein Gott sei,
der alles, wirklich alles könne,
also auch die Gesetze der Logik außer Kraft setzen
und Wirklichkeit werden lassen, was ihm gefällt,
ob es mit den Gesetzen der Logik vereinbar ist oder nicht.

Das wäre eine radikale Absage an die Gesetze der Logik,
ja an das rationale Denken überhaupt.
So könnte jedes Ergebnis jeder logischen Schlussfolgerung,
ja jedes Ergebnis jeder rationalen Überlegung
vom Tisch gewischt werden
mit dem „Argument“,
die Gesetze der Logik wären nicht ausnahmslos gültig.
 

Die Konsequenzen für das Theodizee-Problem wären zwiespältig:

Einerseits böte das die Möglichkeit,
den Gordischen Knoten mit einem Schlag zu durchhauen
und das Theodizee-Problem für gelöst zu erklären:
Wenn ein logischer Widerspruch
kein Beweis mehr wäre, dass etwas nicht sein kann,
dann könnte man nichts mehr ausschließen.
Dann könnte man nicht ausschließen,
dass ein Gott seine Geschöpfe
ohne Not auf das Sadistischste quälen könnte
und dabei dennoch zugleich ein höchst gütiger Gott sein könnte.

Allerdings wäre eine Patent-Lösung dieser Art
alles andere als einleuchtend.
 

Andererseits wäre mit einem solchen Begriff von Allmacht
vielen anderen Theodizee-Versuchen
die Grundlage entzogen.

Viele Theodizee-Versuche beruhen auf der Behauptung,
bestimmte Leiden von Menschen und Tieren seien notwendig,
um etwas Schlimmeres abzuwenden
oder um etwas Gutes und Wichtiges herbeizuführen.
Deshalb habe Gott
die Leiden in Kauf nehmen müssen,
wenn er das Schlimmere abwenden oder das Gute herbeiführen wollte.

Das gilt für einen Gott,
für den die Gesetze der Logik gelten:
Er hätte dann tatsächlich die Leiden in Kauf nehmen müssen.

Anders jedoch ein Gott,
der die Gesetze der Logik nach Belieben außer Kraft setzen könnte.
Er hätte jede Notwendigkeit, die Leiden in Kauf zu nehmen,
außer Kraft setzen können.
Er hätte das Schlimmere abwenden bzw. das Gute herbeiführen können und dennoch Menschen und Tieren das Leiden ersparen können.

So können Theodizee-Versuche,
die von einem so weitgehenden Begriff der Allmacht ausgehen,
keine auch nur halbwegs einleuchtende Lösung liefern.
 

Im Rahmen der Logik

Genug des Ausflugs in das Reich der Irrationalität,
wo die Gesetze der Logik in Frage gestellt werden.

Schon Thomas von Aquin
verstand den Begriff der Allmacht folgendermaßen:

Da Gott alles bewirken kann, was sein kann,
nicht aber das, was einen Widerspruch in sich birgt,
so heißt er gebührendermaßen allmächtig.
     (Summe der Theologie 1: Gott und Schöpfung)

Das ist eine Einschränkung
gegenüber einem naiven Begriff von Allmacht,
nach dem ein allmächtiger Gott
alles Wirklichkeit werden lassen könnte, was ihm einfiele,
ob es mit den Gesetzen der Logik vereinbar wäre oder nicht.

Es ist eine notwendige Einschränkung,
wenn man einen Begriff von Allmacht haben will,
nach dem die Existenz eines allmächtigen Wesens
nicht schon aus Gründen der Logik
von vornherein ausgeschlossen werden muss.

Unentbehrlich für Gläubige,
die ihren Glauben, dass ein allmächtiger Gott existiere,
in ein rationales, den Gesetzen der Logik verpflichtetes Denken
integrieren wollen.

Und Voraussetzung dafür,
dass eine weitere Erörterung des Theodizee-Problems
sich nicht erübrigt.
Denn wenn schon die Existenz eines allmächtigen Gottes
unmöglich wäre,
dann müsste die Existenz eines allmächtigen und gütigen GottesTP
erst recht unmöglich sein.

Deshalb will ich den Begriff der Allmacht
im Folgenden in der Bedeutung verwenden:
Allmacht in den Grenzen dessen,
was mit den Gesetzen der Logik vereinbar ist.
 

Naturgesetze

Haben die Naturgesetze
eine ähnliche Bedeutung für den Begriff der Allmacht
wie die Gesetze der Logik?

Einige Gläubige haben sich dazu geäußert:

...  dass Gott nur das tun könnte, was logisch möglich ist,
und nicht das logisch Absurde wie etwa quadratische Kreise
oder einen Stock mit nur einem Ende.
Die Einschränkung stellt Gottes Allmacht keineswegs in Frage.
Gottes Allmacht, schreibt C.S. Lewis,

.. bedeutet die Macht, alles zu tun, was in sich möglich,
nicht aber zu tun, was in sich unmöglich ist.
Du darfst Ihm Wunder zuschreiben, aber nicht Widersinn.
4

Nach Angaben auf der Seite http://www.ge-li.de/leid.htm Disclaimer
aus dem Buch „Christ sein? Logisch!“ von Steve Kumar;
gespeichert am 28.9.2005

Eine solche Unterscheidung halte ich für zulässig.
Auch ich sehe es so,
dass zwischen den Gesetzen der Logik und den Naturgesetzen
ein bedeutsamer Unterschied besteht:

       Die ausnahmslose Gültigkeit der Gesetze der Logik
ist eine unentbehrliche Voraussetzung
für alles rationale Denken.

       Für die Naturgesetze gilt das nicht.
Was wir als „Naturgesetze“ kennen,
das ist nicht die Voraussetzung,
sondern das Ergebnis von rationalen Überlegungen
auf der Basis von Erfahrungen und Beobachtungen.

Aus unseren Erfahrungen und Beobachtungen
geht, streng genommen, lediglich hervor,
dass diese „Naturgesetze“ in den Fällen gelten,
für die entsprechende Erfahrungen und Beobachtungen vorliegen.
Es gibt kein Gesetz der Logik,
das uns zu der Schlussfolgerung zwingen würde,
dass sie auch in anderen Fällen gelten müssten.
Streng genommen, nicht einmal,
dass sie wahrscheinlich gelten würden.

Streng genommen, ist es lediglich eine Vermutung,
wenn wir das trotzdem als wahrscheinlich ansehen.

Aber was bleibt uns übrig?
Wenn wir rational begründete Vermutungen
für andere Fälle haben wollen –
und manchmal brauchen wir sie für wichtige Zwecke –
dann haben wir für solche Vermutungen keine bessere Grundlage
als die verfügbaren Beobachtungen und Erfahrungen.

Deshalb ist es vernünftig,
auch in anderen Fällen von der Vermutung auszugehen,
dass die „Naturgesetze“ auch dort
mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gelten,
ja mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. 5

Wenn nun aber jemand meint,
er habe eine Ausnahme beobachtet?

Dann gibt es Möglichkeiten, rational darauf zu reagieren.
Ob es sich um ein unerwartetes Ergebnis
eines naturwissenschaftlichen Experiments handelt
oder um ein Wunder mit religiösem Hintergrund –
in jedem Fall ist vernünftig,
erst einmal skeptisch zu sein und zu prüfen,
ob es nicht wahrscheinlicher ist,
dass jemand sich irrt oder vielleicht sogar lügt.

In den Naturwissenschaften hat sich dabei gezeigt,
dass es in seltenen, aber doch wichtigen Fällen
triftige Gründe gab,
es für wahrscheinlicher zu halten,
dass tatsächlich Ausnahmen vorlagen. 6

Müssen wir damit rechnen,
dass es solche triftigen Gründe auch da geben könnte,
wo von Ausnahmen die Rede ist,
die ein allmächtiger Gott herbeigeführt haben soll?
Dieser Frage will ich hier nicht nachgehen.
Hier geht es mir um die Frage,
ob man solche Ausnahmen ausschließen muss.
Meine Antwort lautet:
Nein, man muss es nicht.

Dieser Unterschied
zwischen den Gesetzen der Logik und den Naturgesetzen
hat Konsequenzen für den Begriff der Allmacht:

       Ausnahmen von den Gesetzen der Logik
müssen ausgeschlossen werden –
daraus folgt,
dass die Existenz eines allmächtigen Wesens,
das solche Ausnahmen herbeiführen könnte,
von vornherein ausgeschlossen werden muss.

       Ausnahmen von den Naturgesetzen
sind sehr wenig wahrscheinlich,
müssen aber nicht ausgeschlossen werden –
daraus folgt,
dass die Existenz eines allmächtigen Wesens,
das solche Ausnahmen herbeiführen könnte,
sehr wenig wahrscheinlich ist;
es folgt aber nicht,
dass die Existenz eines solchen allmächtigen Wesens
von vornherein ausgeschlossen werden müsste.
Es folgt nicht,
dass die Existenz eines allmächtigen Wesens
von vornherein ausgeschlossen werden müsste,
wenn dies allmächtige Wesen in der Lage wäre,
Ausnahmen von den Naturgesetzen
und Kombinationen solcher Ausnahmen
nach Belieben herbeizuführen,
solange nur alles mit den Gesetzen der Logik vereinbar bleibt.

Da die Existenz eines Gottes,
der in diesem Sinne allmächtig wäre,
nicht von vornherein ausgeschlossen werden muss,
kann ich feststellen,
dass eine weitere Untersuchung des Theodizee-Problems
sich nicht erübrigt,
wenn ich von diesem Begriff der Allmacht ausgehe.

Deshalb will ich den Begriff der Allmacht
im Folgenden in der Bedeutung verwenden:
Allmacht,
die zwar den Gesetzen den Logik unterliegt,
aber keinen weiteren Einschränkungen durch die Naturgesetze.
 

Weitere Einschränkungen der Allmacht?

Es gibt Vorstellungen,
nach denen die Allmacht Gottes
weiteren Einschränkungen unterliegen könnte.

So lese ich im Wikipedia-Artikel Allmacht
unter der Überschrift
Verschiedene Auffassungen vom Begriff der Allmacht
das folgende Zitat des Kirchenschriftstellers Tertullian (um 160–225):

In gewissem Sinne gibt es Dinge, die sogar für Gott schwierig sind – nämlich das, was Er nicht getan hat –
nicht weil Er es nicht könnte [im Sinne bloßer Fähigkeit],
sondern weil er es auf keinen Fall tun würde
[im Sinne der Übereinstimmung mit sich selbst].
Denn bei Gott gilt:
Wenn er etwas will, dann kann er es auch,
und wenn er etwas nicht will, dann kann er es auch nicht.
      (Version vom 9. September 2005 um 02:47 Uhr)

Leider ist das Zitat aus dem Zusammenhang gerissen.
So ist nicht eindeutig klar,
was genau Tertullian unter Allmacht verstand.

Fasste er darunter alles, was Gott tun könnte [im Sinne bloßer Fähigkeit],
dann entsteht daraus keine weitere Einschränkung der Allmacht.

Ein Wikipedia-Autor scheint jedoch anderer Meinung gewesen zu sein;
warum sonst hätte er Tertullians Auffassung
einen eigenen Absatz widmen sollen,
einen Absatz, der mit den Worten beginnt:

Gott kann alles tun, was mit seiner Natur im Einklang steht.

Wenn das heißen soll,
dass die Allmacht Gottes beschränkt wäre auf das,
was mit seiner Natur im Einklang steht,
oder gar auf das,
was er tatsächlich will,
dann deutet das auf einen etwas merkwürdigen Begriff von Allmacht:

Würde Allmacht nur das umfassen,
was ein Wesen tatsächlich will,
dann könnte die Made in der Kirsche allmächtig sein,
wenn sie weiter nichts will
als fressen, atmen, ausscheiden und vielleicht sich ein wenig bewegen.

Ein sinnvoller Begriff von Allmacht
muss Fähigkeiten zu Alternativen umfassen.

Einschränkungen der Art,
dass jemand etwas nicht wollen könnte,
weil es nicht mit seiner Natur im Einklang steht,
verwischen zudem den Unterschied
zwischen dem, was jemand nicht kann,
und dem, was jemand nicht will.

Gerade für das Theodizee-Problem
ist das ein wichtiger Unterschied:
Wenn jemand nicht hilft,
weil er es nicht kann (im Sinne bloßer Fähigkeit),
dann ist das kein Grund, ihm die Güte abzusprechen.
Wenn aber jemand nicht hilft,
weil er es nicht will,
dann kann das durchaus ein Grund sein,
einen Mangel an Güte festzustellen.

Da hilft es nicht, wenn man trennen will
zwischen Gott und seiner Natur.
Ersetzt man die Aussage „Gott mangelt es an Güte“
durch die Aussage „Der Mangel an Güte liegt in Gottes Natur“,
dann macht man diesen Mangel an Güte
nur um so mehr zu einem Charakteristikum Gottes.

Bei einem Theodizee-Versuch mit der Begründung
„Gott kann doch gar nicht anders, es liegt doch in seiner Natur“
kann nichts Vorteilhafteres herauskommen
als ein Freispruch wegen fehlender Zurechnungsfähigkeit.
An einem etwaigen Mangel an Güte
ändert es nichts, ob jemand nun dafür kann oder nicht.

Ob Gott dafür kann,
das ist gar nicht die entscheidende Frage beim Theodizee-Problem.
Zu den entscheidenden Fragen
zählt die Frage, wie Gott ist;
und erst im Anschluss daran entsteht die Frage,
warum Gott so ist.

Für eine weitere Erörterung des Theodizee-Problems
ist es sinnvoll, sauber zu trennen
zwischen dem, was jemand nicht kann (im Sinne bloßer Fähigkeit),
und dem, was jemand nicht will.

Deshalb will ich im Folgenden
den Begriff der Allmacht frei halten von Einschränkungen
durch eine etwaige Natur Gottes.
 

Mächtig in allem, was ist?

Unter der Überschrift Erlösung aus der Theodizeefrage
schreibt Peter Knauer SJ:

Die übliche Theodizeefrage
geht von zwei falschen Voraussetzungen aus.
Erstens bestehe die Allmacht Gottes darin,
dass er alles Mögliche können müsste.
...
Die Theodizeefrage geht vielmehr selbst
von logisch widersprüchlichen und damit unsinnigen Voraussetzungen aus:
Gott wird als ein Systembestandteil der Welt gedacht,
von dem man herleiten kann, was in der Welt der Fall zu sein hat.
...
Gott selbst fällt nicht unter Begriffe.
...
Dem Versuch, in der umgekehrten Richtung von Gott her
irgendetwas über die Welt herzuleiten,
geht damit jede reale Grundlage ab.
Man kann nur von dem ausgehen, was wirklich geschieht,
und sagen, dass es ohne Gott nicht sein kann.
Gott ist nicht im bloß potentiellen Sinn „allmächtig“,
dass er nur beliebiges Mögliche könnte,
sondern er ist „in allem mächtig“.

     (http://peter-knauer.de/30.html Disclaimer)

Peter Knauer SJ kritisiert also den traditionellen Begriff der Allmacht
und führt einen anderen ein:
Allmacht, die sich auf das erstreckt, was wirklich ist und geschieht,
nicht aber auf mögliche Alternativen
oder jedenfalls nicht auf alle möglichen Alternativen.

Sein Begriff von Allmacht
ist – aus meiner Sicht 7 – eingeschränkt
gegenüber dem traditionellen Begriff von Allmacht.

Wenn man im Theodizee-Problem
den traditionellen Begriff der Allmacht Gottes
durch einen veränderten Begriff ersetzt,
dann ändert sich die Problemstellung.
Etwaige Lösungen des veränderten Problems
sind dann nicht unbedingt auch Lösungen des ursprünglichen Problems.

Das behauptet Peter Knauer SJ allerdings auch nicht.
Vielmehr erklärt er, die ursprüngliche Theodizee-Frage
würde von „unsinnigen Voraussetzungen“ ausgehen.
Auf eine solche Frage eine Antwort zu suchen,
sei „sinnlos vertane Zeit“.

Zur Begründung führt Peter Knauer SJ an:

Gott selbst fällt nicht unter Begriffe. ...
Dem Versuch, ... von Gott her irgendetwas über die Welt herzuleiten, geht damit jede reale Grundlage ab.

„Gott selbst“ mag nicht „unter Begriffe fallen“,
aber Allmacht und Güte sind Begriffe,
die von Menschen geprägt wurden
und so eine bestimmte traditionelle Bedeutung erhalten haben.
Aus diesen Begriffen kann man sehr wohl herleiten,
was ein allmächtiges und gütiges Wesen wollen würde,
und was es können würde.
Und daraus kann man durchaus einiges von dem herleiten,
was – falls ein solches Wesen existiert –
„in der Welt der Fall zu sein hat“.

So hat das Theodizee-Problem in seiner traditionellen Form
durchaus eine reale Grundlage:
die menschlichen Begriffe von Allmacht und Güte.
Peter Knauer SJ mag es für falsch halten,
Gott Allmacht im traditionellen Sinne zuzuschreiben.
Aber die Existenz und traditionelle Bedeutung dieser Begriffe
sind reale Tatsachen, die empirisch feststellbar sind.

Peter Knauer SJ hat keine überzeugenden Argumente vorgebracht,
die dagegen sprechen würden,
das Theodizee-Problem in seiner traditionellen Form ernst zu nehmen.
Er hat keine überzeugenden Argumente dafür vorgebracht,
dass es notwendig wäre,
seine Einschränkungen des Allmachtsbegriffs zu übernehmen.
 

Fazit:
Es besteht keinerlei Notwendigkeit,
den Begriff der Allmacht noch weiter einzuschränken.

Ich kann ohne Bedenken
mit einem Begriff der Allmacht arbeiten,
der dem möglichst nahe kommt,
was sich aus den Wort-Bestandteilen „All“ und „Macht“ ergibt –
und der zugleich dem traditionellen Begriff von „Allmacht“ im Wesentlichen entspricht.

Den Begriff der Allmacht will ich
im Folgenden in der Bedeutung verwenden:

Allmacht,
die zwar den Gesetzen den Logik unterliegt,
aber keinen weiteren Einschränkungen durch die Naturgesetze
und auch sonst keinen weiteren Einschränkungen.
 

Güte

Beim Begriff der Allmacht ging es darum,
was ein allmächtiger Gott bewirken könnte –
beim Begriff der Güte geht es darum,
was ein allmächtiger und gütiger GottTP wollen könnte.
 

Logik

„Etwas wollen“
ist nicht das Gleiche wie
„etwas für wünschenswert halten“.

Etwas für wünschenswert halten
könnte jemand auch dann,
wenn es zu den Gesetzen der Logik im Widerspruch stünde.
Beispielsweise könnte er,
wenn ein junges Mädchen namens Lotte
zwischen ihrem Verlobten Albert und dem verliebten jungen Werther steht,
zugleich für wünschenswert halten,
     dass Lotte in nicht allzu ferner Zukunft
       Albert heiratet
       und bis ins hohe Alter mit ihm verheiratet bleibt,
     dass Lotte in nicht allzu ferner Zukunft
       Werther heiratet
       und bis ins hohe Alter mit ihm verheiratet bleibt,
     dass Lotte zu keiner Zeit
       mit mehr als einem Mann verheiratet ist.

Für wünschenswert halten kann man viel,
aber im Ernst wollen?
Im Ernst etwas wollen,
was man wegen logischer Unvereinbarkeit für unmöglich halten muss?
Das wäre unsinnig.

Noch unsinniger könnte der Versuch sein,
trotz logischer Unvereinbarkeit von mehreren Wünschen
auf die  Verwirklichung von jedem dieser Wünsche hinzuarbeiten.
Unsinnig wäre es beispielsweise,
wenn ein allmächtiger und gütiger GottTP
     die Beziehung zwischen den Verlobten stärken würde,
       um für eine baldige Heirat von Lotte und Albert zu sorgen,
     und zugleich
       die Verliebtheit Werthers in Lotte stärken würde
       um für eine baldige Heirat von Lotte und Werther zu sorgen,
     und zugleich
       dafür sorgen würde,
       dass Lotte nicht mit zwei Männern gleichzeitig verheiratet sein kann.
Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ zeigt,
wohin so etwas führen könnte:
Werther wird immer verzweifelter und nimmt sich schließlich das Leben.
Ein Ergebnis, wie es gewiss kein gütiger GottTP wünschen könnte.

In Prämisse 5 habe ich GottTP Rationalität zugeschrieben
in dem Sinne, dass er sich daran orientiert, was seinen Zielen dient.
Unmögliches zu wollen,
wäre nicht zweckmäßig und oft kontraproduktiv.

Wenn also ein allmächtiger, gütiger und rationaler GottTP erkennt,
dass etwas mit den Gesetzen der Logik unvereinbar wäre,
dann würde er eine Entscheidung fällen,
was er stattdessen will:
ob er auf einen oder mehrere Wünsche verzichten will,
ob er einen oder mehrere Wünsche modifizieren will,
oder ob er vielleicht stattdessen etwas ganz anderes will.

Ich komme zu dem Schluss:
Wenn ein allmächtiger, gütiger und rationaler GottTP erkennt,
dass etwas mit den Gesetzen der Logik unvereinbar wäre,
dann würde er es nicht wollen.
 

Superlative

In vielen Abhandlungen zum Theodizee-Problem
wird Gott nicht einfach „gütig“ genannt –
vielmehr finden sich Aussagen wie die folgenden:
Gott sei „allgütig“,
von „vollkommener Güte“,
„in höchstem Maße gütig“,
es sei „nichts unermesslicher als seine Güte“.

All-Aussagen, Vollkommenheits-Aussagen und Superlative dieser Art
bringen eine Schwierigkeit mit sich:
Kann es denn überhaupt ein Höchstmaß an Güte geben?
Werden jemals alle Möglichkeiten der Güte ausgeschöpft?
Geht es nicht immer noch etwas gütiger?

Könnte ein allmächtiger GottTP,
wie viele Wohltaten auch immer er seinen Geschöpfen erweisen würde,
ihnen nicht in jedem Fall noch mehr Wohltaten erweisen?
Oder noch mehr empfindungsfähige Wesen erschaffen
und ihnen Wohltat über Wohltat erweisen?

Ein Höchstmaß an Güte in diesem Sinne
wäre folglich mit den Gesetzen der Logik unvereinbar.

Damit wäre die Existenz eines Gottes,
der in diesem Sinne in höchstem Maße gütig wäre,
von vornherein ausgeschlossen –

und eine weitere Erörterung des Theodizee-Problems
würde sich erübrigen.
 

Deshalb habe ich schon im 1. Teil,
bei der Definition der Güte eines allmächtigen und gütigen GottesTP,
auf All-Aussagen, Vollkommenheits-Aussagen und Superlative verzichtet
und stattdessen formuliert:

Prämisse 6 – Güte:
„Dieser allmächtige Gott
ist sehr gütig,
er ist gütig in so hohem Maße,
dass er niemals den Vorwurf mangelnder Güte verdienen könnte –
und so gütig war er schon immer.“

Aus dem gleichen Grunde
will ich den Begriff der Güte eines allmächtigen und gütigen GottesTP
im Folgenden so verstehen,
dass diese Güte nicht unbedingt den Wunsch einschließen muss,
mit Wohltaten um sich zu werfen.

Wohl aber
muss der Begriff der Güte eines allmächtigen und gütigen GottesTP
eine hohe Motivation einschließen,
denen zu helfen, die dringend Hilfe brauchen,
und diejenigen zu schützen, die dringend Schutz brauchen.

Das ist die Mindest-Voraussetzung dafür,
dass der Begriff der Güte
die Bedeutung behält,
die er im allgemeinen Sprachgebrauch hat.
 

Muss die Güte Gottes
denn menschlichen Begriffen von Güte entsprechen?

Für diesen Einwand gegen die Argumentation des Theodizee-Problems
finden Gläubige Rückhalt in der Bibel:

Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken,
und eure Wege sind nicht meine Wege – / Spruch des Herrn.

So hoch der Himmel über der Erde ist, /
so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege /
und meine Gedanken über eure Gedanken.
      Jesaja (Deuterojesaja) 55, 8-9

Gläubige, die der Meinung sind,
ein menschlicher Begriff wie „Güte“ sei ungeeignet,
etwas über ihren Gott auszusagen,
wären konsequent,
wenn sie darauf verzichten würden,
diesen Begriff auf ihren Gott anzuwenden.

Wenden sie aber diesen Begriff auf ihren Gott an
und verkünden: „Gott ist gütig“,
und erklären sie zugleich,
mit „gütig“ sei nicht das Gleiche gemeint
wie im allgemeinen Sprachgebrauch,
dann ist das eine Veränderung des Begriffs der Güte
gegenüber dem allgemeinen Sprachgebrauch.

Wenn im Theodizee-Problem
der allgemein übliche Begriff der Güte Gottes
durch einen veränderten Begriff ersetzt wird,
dann ändert sich die Problemstellung.
Etwaige Lösungen des veränderten Problems
sind dann nicht unbedingt auch Lösungen des ursprünglichen Problems.
Das ursprüngliche Problem bleibt so ungelöst wie zuvor.

Einige Gläubige mögen dazu stehen,
dass sie mit ihrer Umdeutung des Begriffs der Güte
das ursprüngliche Theodizee-Problem nicht gelöst haben.

Wenn Gläubige hingegen triumphierend verkünden,
mit ihrer Umdeutung des Begriffs der Güte
hätten sie „das Theodizee-Problem“ gelöst,
dann verdient das Widerspruch:
Sie haben es nicht gelöst,
sie haben es nur unter der Hand durch ein anderes ersetzt.
Man kann auch sagen:
Sie haben sich darum herumgemogelt.
 

Fazit:

Für eine weitere Erörterung des Theodizee-Problems
kann es bei einem Begriff der Güte bleiben,
wie er dem allgemeinen Sprachgebrauch entspricht
und wie er hier präzisiert wurde:
ein Begriff der Güte,
der eine hohe Motivation einschließt,
denen zu helfen, die dringend Hilfe brauchen,
und diejenigen zu schützen, die dringend Schutz brauchen.

 

Zwei Seiten des Theodizee-Problems

Auf der einen Seite des Theodizee-Problems
stehen seine theologischen Voraussetzungen:
insbesondere die Dogmen von der Allmacht und von der Güte GottesTP.

Auf der anderen Seite steht die empirisch erfahrbare Welt,
an deren Gegebenheiten sich diese Dogmen messen lassen müssen:
eine Welt voller Schmerz und Leid.

Von beiden Seiten her haben Gläubige versucht,
Lösungen des Theodizee-Problems zu finden,
mit denen sich die beiden Seiten unter einen Hut bringen lassen könnten.
 

Von der theologischen Seite her
wird an den Deutungen der verwendeten Begriffe angesetzt,
vor allem an Deutungen der Begriffe Allmacht und Güte:

       Im Abschnitt „Warum lässt Gott das zu?“ beschrieb ich,
wie der Begriff der Allmacht
in einigen laienhaften Theodizee-Versuchen
faktisch weitgehend ausgehöhlt wird:
indem die Vielfalt der Möglichkeiten,
die einem allmächtigen Gott zur Verfügung stünden,
großenteils ignoriert wird.

       Im Abschnitt Allmacht
erörterte ich einige bewusste Umdeutungen
des Begriffs der Allmacht,
die ebenfalls auf eine weitgehende Aushöhlung
dieses Begriffs hinauslaufen.

       Im Abschnitt Güte
befasste ich mich ganz allgemein mit dem Anspruch,
dass die Güte Gottes
nicht den menschlichen Begriffen von Güte entsprechen müsse.

Für alle diese Fälle konnte ich feststellen:

Durch Umdeutung von Begriffen
wie „Allmacht“ oder „Güte“
wird das traditionelle Theodizee-Problem
nur durch ein verändertes Problem ersetzt.

Eine Lösung des traditionellen Theodizee-Problems
ist auf diese Weise nicht zu erreichen.
 

In den obigen Abschnitten Allmacht und Güte
habe ich außerdem klargestellt,
wie ich diese beiden Begriffe im Folgenden verstehen will:

       Allmacht soll als eine sehr umfassende Macht zu verstehen sein,
eingeschränkt lediglich durch die Gesetze der Logik.

       Beim Begriff der Güte Gottes
habe ich mich hingegen auf das Notwendige beschränkt:
eine hohe Motivation,
denen zu helfen, die dringend Hilfe brauchen,
und diejenigen zu schützen, die dringend Schutz brauchen –
eine Motivation, die in den Willen mündet,
zu helfen bzw. zu schützen,
soweit keine schwerwiegenden Gründe dagegen sprechen.

Auf starke Begriffe wie „Allgüte“,
wie sie in einigen traditionellen Formulierungen
des Theodizee-Problems vorkommen,
habe ich aus wichtigen Gründen verzichtet.

Die Aussagekraft meiner folgenden Ausführungen
wird dadurch nicht eingeschränkt:

Wenn schon für meinen relativ schwachen Begriff von Güte
keine Lösungen des Theodizee-Problems zu finden sind,
die ein Festhalten an Existenz, Allmacht und Güte Gottes erlauben könnten –
dann sind solche Lösungen
für einen stärkeren Begriff von Güte
erst recht nicht zu finden. 8
  

Mit den beschriebenen Begriffen von Allmacht und Güte Gottes
will ich mich nun der anderen Seite des Theodizee-Problems zuwenden:
der empirisch erfahrbaren Welt.
 

Eine Welt voller Schmerz und Leid

Könnte ein allmächtiger und gütiger GottTP
es für richtig halten, bei so viel Elend tatenlos zuzusehen?

Ja, haben Gläubige behauptet.
Und sie haben vielerlei Gründe angeführt,
warum – ihrer Meinung nach – ein allmächtiger und gütiger GottTP
es für richtig halten könnte, tatenlos zuzusehen.

       Einige haben die These vertreten,
die Leiden der Menschen in dieser Welt seien ohne Bedeutung.

       Und einige – teilweise dieselben – haben Erklärungen präsentiert,
warum ein allmächtiger und gütiger GottTP
all das Leiden in Kauf genommen haben könnte:
weil das notwendig gewesen sei,
um Schlimmeres zu verhindern
oder um etwas Gutes und Wichtiges zu ermöglichen.
 

Angebliche Bedeutungslosigkeit
von Leiden in dieser Welt

Fehlt es nur an Gutem?

„Privatio boni“ – etwa: „Mangel an Gutem“ – nennt man ein Argument, das von so berühmten Theologen wie dem Kirchenlehrer Augustinus gebraucht wurde. Es läuft darauf hinaus, dass eigentlich nur das Gute wirklich vorhanden sei, nicht jedoch das Übel. Das Übel bestehe lediglich darin, dass es an Gutem fehle. Etwa so, wie zwar das Licht wirklich vorhanden ist, die Dunkelheit hingegen lediglich darin besteht, dass es an Licht fehlt.

Wenn man behaupten kann, dass eigentlich nur das Gute wirklich vorhanden sei, dann kann man auch behaupten, dass der allmächtige Gott eigentlich nur Gutes geschaffen habe. Berühmte Theologen fanden diese Behauptung nützlich für ihre Versuche einer Theodizee.

Theologen und Philosophen mögen meinen,
so könnten sie das Leiden von Mensch und Tier hinwegdiskutieren.
Mit ihren Gedankenspielen ändern sie jedoch nichts daran,
dass die Gefühle eines Leidenden wirklich vorhanden sind.
Dass es nicht etwa das Fehlen von angenehmen Gefühlen ist,
das den Leidenden so plagt, sondern das Vorhandensein
von unangenehmen Gefühlen.

Leiden sind Realität, und Leiden können Menschen und Tiere sehr quälen. Daran kann das „Privatio boni“-Argument nichts ändern. Auf diese Weise ist das Theodizee-Problem nicht zu lösen.

Wo auch immer das Theodizee-Problem
mit Hilfe des „Privatio boni“-Arguments für gelöst erklärt wird,
da wird das ursprüngliche Problem nicht gelöst,
sondern durch ein anderes ersetzt:
durch ein Problem,
in dem der Begriff der Güte aufs Äußerste ausgehöhlt ist,
so weit,
dass Güte nicht einmal mehr bedeutet,
auf qualvolles Leiden von Menschen und Tieren
mit einer starken Motivation zur Hilfeleistung zu reagieren
und tatsächlich zu helfen,
soweit keine schwerwiegenden Gründe dagegen sprechen.
 

Ausgleich im Jenseits

„Selig seid ihr, die ihr hier hungert; denn ihr sollt satt werden.
Selig seid ihr, die ihr hier weinet; denn ihr werdet lachen“,
predigt Jesus im Evangelium nach Lukas 6,21.

Erwartungen dieser Art haben Gläubige für Theodizee-Versuche genutzt. Zur Klage über die körperlichen Leiden von Kindern, die noch zu jung sind, um gesündigt zu haben, schrieb der heiliggesprochene Kirchenlehrer Augustinus u. a.: „wer weiß, was Gott diesen Kindern ... an gutem Ausgleich vorbehält ...?“

Im Philosophie-Forum heißt es in einem von „Jay Ray“ vorgestellten Theodizee-Versuch: „Daher kann man glauben, dass Leid unbestritten unangenehm ist, aber man es nicht schlimm, sondern sogar nützlich für einen selbst finden würde, wenn man erst mal den größeren Zusammenhang (zB nach dem Tode) erkennen wird.“ 9

So könnte man begründen, dass Gottes Handeln – insgesamt gesehen – dem Menschen mehr Nutzen als Schaden bringe.
Und dass es ganz besonders dem leidenden Menschen
vor allem Nutzen bringe.

Das Theodizee-Problem besteht aber nicht in der Frage, ob es sein kann, dass ein allmächtiger Gott für den Menschen nützlich ist. Das Theodizee-Problem besteht in der Frage, ob es sein kann, dass ein allmächtiger Gott sehr gütig ist.

Güte ist mehr als Nützlichkeit. Einem sehr gütigen Wesen würde es nicht genügen, insgesamt gesehen nützlich zu sein.
Ein sehr gütiges Wesen würde sich für das Wohlergehen
in jeder Lebensphase interessieren. Es würde niemanden
schwerem Leiden ausgesetzt sehen wollen,
wenn es nicht einen schwerwiegenden Grund dafür hätte.

Wenn der Begriff der Güte auf bloße Nützlichkeit reduziert wird,
dann wird das Theodizee-Problem nicht gelöst –
es wird nur das ursprüngliche Problem durch ein anderes ersetzt.
 

Ein gütiger GottTP könnte den Wunsch haben,
einem Menschen nach dem Tode sehr viel Gutes zu tun.
Das erklärt nicht, warum er ihn vorher schwer leiden lassen sollte.
Nur damit das Gute ein Ausgleich ist?
Sollte Gott so darauf erpicht sein, einen Ausgleich zu schaffen,
dass er schweres Leiden zufügt oder bestehen lässt,
nur damit er später etwas auszugleichen hat?
Das wäre wohl kaum das Verhalten eines gütigen Gottes.
Es erinnert eher an den Feuerwehrmann, der Feuer legt,
nur damit er etwas zu löschen hat.

Auf diese Weise kommt man einer Lösung des Theodizee-Problems nicht näher. Nicht einmal, wenn man davon ausgeht, dass ein so erfreulicher Ausgleich möglich wäre, dass – wie Jesus meinte – gerade die Leidenden glücklich zu schätzen wären. Aber wäre das möglich? Das kann bezweifelt werden. Aus verschiedenen Gründen:

       Kann ein späterer Ausgleich überhaupt eine Rechtfertigung dafür sein, einen Menschen schweren Leiden auszusetzen? Noch dazu, ohne vorher zu fragen? Würde es uns gefallen, wenn jemand so etwas mit uns machen würde? Würden wir es in Ordnung finden?

       „Die Erlösung im Jenseits kommt immer zu spät. Sie kann nicht im geringsten ungeschehen machen, was zuvor geschehen ist. ... In welchem annehmbaren Sinn sollte erfahrenes Leid je wieder gutgemacht werden können?“, schreibt Joachim Kahl in seinem Aufsatz Die Antwort des Atheismus Disclaimer.

       Schließlich ist die Frage, ob es einen Ausgleich im Jenseits denn wirklich gibt; ja, ob es überhaupt ein Jenseits gibt.

Aber nehmen wir einmal an, es gebe einen allmächtigen Gott, und der habe unsere diesseitige Welt geschaffen und außerdem noch eine jenseitige Welt.
Eine dieser Welten kennen wir: die diesseitige.
Damit haben wir unsere Erfahrungen:
Längst nicht jeder Leidende erhält einen Ausgleich für seine Leiden.
Was könnten wir danach von einer jenseitigen Welt erwarten? Einen Ausgleich für jeden Leidenden?

Nicht, wenn wir uns an unsere Erfahrungen halten.
Wie wir das im täglichen Leben ja auch tun.
Wenn wir eine Schinken-Pizza probiert haben
und sie hat uns nicht geschmeckt,
dann erwarten wir nicht viel Besseres von der Salami-Pizza desselben Herstellers.
Wir kämen gar nicht auf die Idee zu erwarten,
dass die Salami-Pizza „zum Ausgleich“ besonders lecker schmecken müsste.
 

Angebliche Notwendigkeit
von Leiden in dieser Welt

Nicht immer liegt es im Interesse eines Menschen,
allem aus dem Weg zu gehen,
was Leiden mit sich bringt.
Es kann zu seinem Vorteil sein,
sich einer schmerzhaften medizinischen Behandlung zu unterziehen,
um spätere schlimmere Schmerzen zu vermeiden.
Allgemeiner:
Es kann zu seinem Vorteil sein,
das kleinere Übel in Kauf zu nehmen,
um ein größeres Übel zu vermeiden.

Ähnliche Überlegungen
liegen vielen angeblichen Lösungen oder Teil-Lösungen
des Theodizee-Problems zugrunde:
dass GottTP bestimmte Übel zugelassen habe,
um schlimmere Übel zu verhindern.

Ist also ein allmächtiger und gütiger GottTP gerechtfertigt,
wenn er sich für das kleinere Übel entschieden hat?

So einfach ist das nicht einmal dann,
wenn ein Mensch sich für ein kleineres Übel entscheidet.
Wenn ein Arzt eine schmerzhafte Behandlung vornehmen will,
um einem Patienten spätere schlimmere Schmerzen zu ersparen,
dann muss gefragt werden:
Könnte das gleiche Ziel nicht ebenso sicher
mit einer weniger schmerzhaften Behandlung erreicht werden?

Eine schmerzhafte Behandlung kann gerechtfertigt sein –
aber nur da, wo es keine bessere Möglichkeit gibt.

Allgemeiner:
Ein kleineres Übel in Kauf zu nehmen
kann gerechtfertigt sein –
aber nur da,
wo es keine bessere Möglichkeit gibt.
Nur da,
wo es notwendig ist, das kleinere Übel in Kauf zu nehmen,
um Schlimmeres abzuwenden.
 

Könnten sich Notwendigkeiten dieser Art
auch für einen allmächtigen Gott ergeben?
Sicherlich nicht in so vielen Fällen
wie für einen Menschen.
Ein menschlicher Arzt hat manchmal keine Möglichkeit,
einen Kranken zu heilen, ohne ihm Schmerzen zuzufügen –
ein allmächtiger Gott hätte diese Möglichkeit auf jeden Fall.

Trotzdem könnten sich auch für einen allmächtigen Gott
gewisse Notwendigkeiten ergeben:
weil auch seine Macht den Gesetzen der Logik unterliegt.

So kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden,
dass es auch für einen allmächtigen und gütigen GottTP
notwendig werden könnte,
bestimmte Übel in Kauf zu nehmen,
um schlimmere zu verhindern.
Sodass es unter Umständen kein Beweis mangelnder Güte wäre,
wenn ein allmächtiger und gütiger GottTP
bestimmte Übel zugelassen hätte.
 

„Etwas Gutes und Wichtiges
wäre anderenfalls nicht möglich“

Diese Argumentation
ist eine Variante der Argumentation,
etwas Schlimmes sei anderenfalls nicht abzuwenden.

Von einem Arzt,
der eine schmerzhafte Behandlung vornimmt,
um den baldigen Tod eines Patienten zu verhindern,
könnte man auch sagen,
er tue es, um etwas Gutes und Wichtiges zu erreichen,
nämlich das Weiterleben des Patienten.

Allgemeiner:
Man könnte es als ein großes Übel ansehen,
wenn etwas Gutes und Wichtiges nicht zustande käme.

Auch hier gilt:
Ein Übel in Kauf zu nehmen
kann nur unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein.

Zum einen müsste das, was erreicht werden soll,
so gut und so wichtig sein,
dass es die Sache wert ist, dafür das kleinere Übel in Kauf zu nehmen.

Und:
Ein Übel in Kauf zu nehmen
kann nur da gerechtfertigt sein,
wo es keine bessere Möglichkeit gibt,
das Gute und Wichtige zu erreichen.
Nur da,
wo es notwendig ist, um dies Gute und Wichtige zu erreichen.
 

Komplexere Fragenstellungen

Oft ist die Frage nicht nur,
ob man sich für oder gegen eine bestimmte Möglichkeit entscheidet,
bei der man bestimmte Übel in Kauf zu nehmen hätte.
Oft stehen mehr als zwei Möglichkeiten zur Wahl,
und oft haben einige dieser Möglichkeiten
eine ganze Reihe von Folgen,
gute und üble.

In solchen Fällen müssen mehrere Möglichkeiten
miteinander verglichen werden.
Dann müssen Fragen gestellt werden wie die folgenden:

       Sind die Übel, die eine bestimmte Möglichkeit mit sich bringt,
wirklich kleiner (oder höchstens ebenso groß)
im Vergleich zu anderen Möglichkeiten?

       Und wenn nicht:
Ist das Gute und Wichtige, das eine Möglichkeit mit sich bringt,
so viel besser und wichtiger
im Vergleich zu anderen Möglichkeiten,
dass es die Sache wert ist,
dafür die größeren Übel in Kauf zu nehmen?

Vielleicht gibt es keine beste Möglichkeit.
Vielleicht gibt es zu jeder Möglichkeit noch eine bessere.
Vielleicht gibt es aus Gründen der Logik
keine perfekte Möglichkeit,
auch nicht für einen allmächtigen GottTP.

Das ist kein Grund,
Verbesserungen zu unterlassen.
Schon gar nicht,
wenn Verbesserungen so dringend gebraucht würden
wie in dieser Welt voller Schmerz und Leid.
 

Angeblich „die beste aller möglichen Welten“

Es war der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716),
der diese These formuliert hat:
Diese unsere Welt sei „die beste aller möglichen Welten“.
      (in seinen
Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu,
      la liberté de l'homme et l'origine du mal
)

Leibniz meinte, anders wäre es gar nicht möglich:

       Gottes unendliche Weisheit
lasse ihn die beste unter allen möglichen Welten herausfinden,

       seine unendliche Güte lasse ihn diese beste Welt auswählen,

       und seine Allmacht lasse ihn diese beste Welt hervorbringen.

Folglich müsse die Welt, die Gott hervorgebracht hat – also die tatsächlich existierende Welt – „die beste aller möglichen Welten“ sein.

Gegen diese Schlussfolgerung gibt es einiges einzuwenden.
Das beginnt schon mit dem Begriff
„die beste aller möglichen Welten“:
Gibt es denn eine „beste aller möglichen Welten“?
Oder gibt es zu jeder möglichen Welt eine noch bessere?
Etwa eine, in der es noch mehr glückliche Wesen gäbe?

Leibniz bestand darauf,
dass es auf jeden Fall die beste Welt sein müsste,
also nicht nur eine besonders gute.
Er erklärte das mit der Behauptung:
„Gäbe es nicht die beste (optimum) aller möglichen Welten,
dann hätte Gott überhaupt keine erschaffen.“

Das ist nicht einzusehen.
Eine mögliche Welt braucht nicht die beste zu sein,
um besser zu sein als nichts.
Ein allmächtiger und gütiger GottTP
hätte keinen Grund, sich für nichts zu entscheiden,
wenn es Möglichkeiten gäbe, die besser wären.

Nichts zu tun, wo Perfektion unerreichbar ist,
das wäre kein Zeichen von Vollkommenheit,
sondern ein Zeichen einer ernsten psychischen Störung.
Ein intelligenter GottTP wäre in der Lage,
das zu erkennen,
und ein allmächtiger GottTP wäre in der Lage,
sich von einer solchen psychischen Störung zu befreien.

Die Behauptung, dass diese unsere Welt
„die beste aller möglichen Welten“ sein müsste,
lässt sich also nicht zwingend aus den Eigenschaften
eines allmächtigen und gütigen GottesTP herleiten.

Tatsache bleibt, dass Leibniz behauptet hat,
diese unsere Welt wäre „die beste aller möglichen Welten“.
Eine kühne Behauptung
angesichts einer Welt voller Schmerz und Leid.

Nun, wenn die tatsächlich existierende Welt wirklich die beste aller möglichen Welten wäre, dann wäre es eine Erklärung dafür, dass ein allmächtiger und gütiger GottTP sich entschieden haben könnte, gerade diese Welt zu schaffen und keine andere.
Dann wäre das Theodizee-Problem gelöst.

Es fehlte nur noch die Begründung,
warum wir die tatsächlich existierende Welt – mit all ihrem Elend –
für „die beste aller möglichen Welten“ halten sollten.

Gottes angebliche Weisheit, Güte und Allmacht
reichen da als Begründung nicht aus:
Wenn man Weisheit, Güte und Allmacht Gottes benutzt,
um daraus auf die beste Welt zu schließen,
und anschließend die beste Welt benutzt,
um daraus auf die Möglichkeit
von Weisheit, Güte und Allmacht Gottes zu schließen,
dann bekommt man am Ende nur etwas von dem wieder heraus,
was man am Anfang hineingesteckt hat.
So ein „Zirkelschluss“ – Logiker nennen ihn „petitio principii“ –
beweist überhaupt nichts.

Das heißt:
Wenn man die Behauptung,
dass die tatsächliche Welt „die beste aller möglichen Welten“ sei,
benutzen will,
um auf die Möglichkeit von Weisheit, Güte und Allmacht Gottes zu schließen,
dann braucht man andere Begründungen für diese Behauptung.
 

Tatsächlich haben Leibniz und andere Philosophen und Theologen
eifrig nach Begründungen gesucht, warum man unsere Welt
für „die beste aller möglichen Welten“ halten könnte.
Dabei kam eine stattliche Sammlung von Argumenten zusammen..
 

Das kleinere Übel

Lebewesen leiden unter Hunger und Durst, unter Schmerzen und unter Angst vor dem Tode – dafür glaubten Leibniz und andere eine Erklärung zu haben: All das sei notwendig, um das Verhalten der Lebewesen in die richtigen Bahnen zu lenken. Um sie zu motivieren, sich ausreichend mit Nahrung und Wasser zu versorgen, sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben und Verletzungen und Krankheiten zu behandeln. Das diene dem Schutze der Lebewesen vor ernsten Gesundheitsschäden und vor einem vorzeitigen Tod. Im Vergleich dazu seien Hunger und Durst, Schmerz und Angst das kleinere Übel.

Tatsächlich haben Hunger und Durst und Schmerz und Angst in vielen Fällen die Funktion, die Überlebenschancen zu verbessern. Das erklärt ihr Vorkommen bei Lebewesen, deren Evolution auf blindem Zufall (Mutationen) und auf einer unbarmherzigen Selektion beruht. Es erklärt Hunger und Durst und Schmerz und Angst in einer Welt ohne Gott.

In einer Welt ohne Gott ist es kein Grund zur Verwunderung,
dass all die unangenehmen Gefühle auch da vorkommen,
wo sie keine Funktion für das Überleben haben. Von der Evolution kann man keine Designer-Lebewesen erwarten, die perfekt an die Bedingungen ihrer Lebenswelt angepasst wären. Evolution kann immer nur aus den genetischen Möglichkeiten auswählen, die durch zufällige Mutationen entstanden sind. Bei dieser Auswahl kommt es nicht auf den Einzelfall an. Es können Eigenschaften ausgewählt werden, die in bestimmten Fällen ohne Wirkung auf das Überleben sind oder sogar von Nachteil – wenn nur insgesamt gesehen die Vorteile überwiegen.

In einer Welt, für die sich ein allmächtiger und gütiger Gott entschieden haben soll, ist jedoch in jedem Einzelfall die Frage: Wozu sollte das gut sein?

       Was nützt quälender Hunger, wenn es nichts zu essen gibt?

       Was nützt quälender Schmerz, wenn es keine Heilung gibt?

       Was nützt der Schmerz, der niemandem zur Warnung dienen kann, weil er nicht durch Fehlverhalten entstand?

       Was nützt der Schmerz, der durch erwünschtes Verhalten entstand, z. B. durch den Versuch, einen anderen Menschen zu retten?

Das Argument, Gott wähle das kleinere Übel,
um vor einem größeren Übel zu bewahren,
greift nicht, wo niemand vor einem größeren Übel bewahrt wird.

Ebenso wenig greift das Argument,
wenn das Übel, so klein es sein mag, gar nicht nötig ist,
weil es bessere Möglichkeiten gibt.
Hätte ein allmächtiger Gott nicht auf angenehmere Weise
dafür sorgen können, dass Lebewesen sich richtig verhalten?
Bei einigen Verhaltensweisen funktioniert das doch:

       Lebewesen atmen ganz von selbst,
sie brauchen dazu keine Angst vorm Ersticken.

       Lebewesen zeugen und empfangen aus Freude am Geschlechtsverkehr,
sie brauchen dazu keine Angst vor Kinderlosigkeit.

Die Notwendigkeit der Erhaltung von Leben und Gesundheit
liefert also keineswegs in jedem Fall eine befriedigende Erklärung,
warum ein gütiger Gott sich dafür entschieden haben könnte,
dass Lebewesen leiden müssen.

Darüber hinaus kann man fragen,
warum es denn all diese Notwendigkeiten
für die Lebewesen geben sollte.
Warum sollten Tiere Nahrung brauchen,
und einige Tiere sogar tierische Nahrung?
Wenn alle Tiere mit pflanzlicher Nahrung auskämen,
oder sogar ganz ohne Nahrung,
dann mag das im Widerspruch zu den Naturgesetzen stehen,
es stünde jedoch nicht im Widerspruch zu den Gesetzen der Logik.
Also hätte ein allmächtiger und gütiger GottTP
die Notwendigkeit von (bestimmten Arten der) Nahrung
überhaupt nicht zu schaffen brauchen.

Übrigens wird in der Bibel
Gott ausdrücklich die Möglichkeit zugeschrieben,
derlei Notwendigkeiten abzuschaffen,
ja überhaupt alle Übel abzuschaffen:

Wolf und Lamm werden zusammen weiden;
und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind;
und die Schlange: Staub wird ihre Nahrung sein.
Man wird nichts Böses und nichts Schlechtes tun
auf meinem ganzen heiligen Berg, spricht der HERR.
     
(Jesaja (Tritojesaja) 65,25)

Ein zusätzliches Dilemma für diejenigen,
die ihre Theodizee-Versuche
mit den Aussagen der Bibel verbinden wollen:
Wenn laut Bibel
später keine Übel mehr notwendig sind,
warum sollten sie dann jetzt noch notwendig sein?
 

Hängt alles zusammen?

Hätte ein allmächtiger und gütiger Gott nicht eine Welt ohne Leiden erschaffen können? Dazu erklärte Gottfried Wilhelm Leibniz:
„Was ich bestreite, ist, dass sie dann besser wäre.“
Er meinte, dass in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung stehe. Deshalb könnte man Übel wie Hunger oder Schmerz „nicht ausmerzen [...], ohne zu viel größeren Nachteilen zu gelangen.“

Wirklich? Steht wirklich alles in einer so engen Verbindung?
Was sollte es denn schaden,
wenn ein Kranker,
dessen baldigen Tod kein Mensch verhindern kann,
weniger Schmerzen hätte?

Dass das zu „viel größeren Nachteilen“ führen würde,
ist fast schon ein Parade-Beispiel für eine „Ad-hoc-Annahme“,
für eine willkürliche Annahme allein zu dem Zweck,
eine bestimmte These zu retten.

Die Fragwürdigkeit von Annahmen dieser Art
wird noch deutlicher angesichts der Überlegung,
dass ein allmächtiger GottTP infolge seiner Allmacht
in vielen Fällen die Möglichkeit hätte,
zu verhindern, dass jene „viel größeren Nachteile“ eintreten,
die ohne sein Eingreifen
nach den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt eintreten würden.
 

Gerechtigkeit

Leiden sei eine „gerechte und wohlverdiente Strafe Gottes“ –
mit dieser Behauptung haben Gläubige seit alters her versucht,
menschliches Leiden zu erklären.
Der Gedanke findet sich schon im Alten Testament,
im Buch Hiob (auch Ijob oder Job genannt).

Dies erklärt jedoch nicht, warum auch Unschuldige leiden.

Im Alten Testament besteht der leidende Hiob darauf,
dass er unschuldig sei.

Unschuldig sind auf jeden Fall die Menschen,
die von Geburt an unter heftigen Schmerzen leiden.

Dass Unschuldige leiden, das ist auf keinen Fall
eine „gerechte Strafe“ – im Gegenteil, es ist höchst ungerecht.

So führt der Versuch, menschliche Leiden
durch die „Gerechtigkeit Gottes“ zu erklären,
nur zu neuen Fragen.
Er führt zu einer Variante des Theodizee-Problems:
Wenn Gott allmächtig und gerecht ist –
warum müssen dann so viele Unschuldige so viel leiden?

Im Buch Hiob kommt ein gewisser Elifas von Teman zu Wort,
der seinem leidenden Freund Hiob vorhalten zu dürfen glaubte:
„Bedenk doch! Wer geht ohne Schuld zugrunde?
Wo werden Redliche im Stich gelassen?
Wohin ich schaue: Wer Unrecht pflügt, wer Unheil sät, der erntet es auch.
Durch Gottes Atem gehen sie zugrunde, sie schwinden hin
im Hauch seines Zornes.“ (Kapitel 4 Vers 7-9)
Dieser Elifas versteigt sich schließlich zu allerlei aus der Luft gegriffenen Vorwürfen: „Ist nicht groß deine Bosheit, ohne Ende dein Verschulden?
Du pfändest ohne Grund deine Brüder,
ziehst Nackten ihre Kleider aus. Den Durstigen tränkst du nicht mit Wasser, dem Hungernden versagst du das Brot. ...“
(Kapitel 22, Vers 5 ff)

Hier zeigt sich eine sehr unerfreuliche Nebenwirkung
des Dogmas vom Leiden als „gerechter Strafe“:
Menschen, denen es schon schlecht genug geht,
sehen sich zu allem Überfluss mit der Anschuldigung konfrontiert,
sie müssten irgendetwas besonders Schlimmes getan haben, um diese „Strafe“ zu verdienen.

Bart D. Ehrman, Professor für Neues Testament,
sieht hier ein doppeltes Problem:
dass die Vorstellung von Leiden als Strafe Gottes

„sowohl falsche Sicherheit als auch falsche Schuld erzeugt.
Wenn Strafe durch die Sünde kommt,
und ich kein bisschen leide, danke sehr,
macht mich das gerecht?
Gerechter als meinen Nachbarn, der seinen Job verloren hat,
oder dessen Kind bei einem Unfall getötet wurde,
oder dessen Frau brutal vergewaltigt und ermordet wurde?

Andererseits, wenn ich schwerem Leiden unterworfen bin,
liegt es wirklich daran, dass Gott mich straft?
Ist es wirklich meine Schuld,
wenn mein Kind mit einer Behinderung geboren wird?
Wenn die Wirtschaft abstürzt
und ich kein Essen mehr auf den Tisch bringen kann?
Wenn ich Krebs bekomme?“
      (God’s Problem. How the Bible Fails to Answer
     Our Most Important Question – Why We Suffer
, S. 55,
     Übersetzung von Irene Nickel)

  

Gegenseitige Hilfe

Leiden lasse viel Gutes entstehen, haben Gläubige argumentiert. Menschen würden einander helfen. Mitgefühl, Nächstenliebe und Solidarität würden zutage treten. Die guten Charaktereigenschaften, die sich so entwickeln und bewähren könnten, und die zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich so verbessern könnten – wäre all das nicht viel wertvoller als die Freiheit von Leiden?

Nanu! Wird Leiden dadurch zu einer guten Sache? Müssten wir uns dann am Ende noch bei denen bedanken, die anderen Menschen Leiden zugefügt haben? Eine verkehrte Welt.

Eigentlich ist es sonnenklar: Es ist nicht gut, wenn Menschen unter Krieg und Verfolgung leiden, es ist nicht gut, wenn sie von unerträglichen Schmerzen geplagt werden, von Atemnot, Erbrechen oder Durchfällen, oder von quälenden Depressionen.

Trotzdem scheint es Menschen zu geben, die das allein nicht überzeugend finden; ihrer Meinung nach müsste eine etwas „philosophischere“ Begründung her.
Die kann gegeben werden:

Für wen sollte schweres Leiden denn zu einer guten Sache werden?

Für viele Leidende wird es das nicht. Manch einer leidet, ohne dass jemand hilft, ohne dass jemand Mitgefühl zeigt, ja ohne dass auch nur jemand davon weiß. Manch ein Leidender legt keinen Wert auf das Mitgefühl und die Zuwendung von Menschen, denen er gleichgültig wäre, wenn es ihm besser ginge. Manch ein Kranker oder Behinderter kennt keinen sehnlicheren Wunsch als den, sich selber helfen zu können und nicht auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen zu sein. Schließlich gibt es Menschen, die unter so heftigen Schmerzen leiden, dass sie sich an nichts mehr recht freuen können, auch nicht am aufrichtigsten Mitgefühl, an der schönsten Solidarität und an den liebevollsten zwischenmenschlichen Beziehungen.

Und die Menschen, die Mitgefühl, Nächstenliebe und Solidarität zeigen können, gute Charaktereigenschaften entwickeln und liebevolle zwischenmenschliche Beziehungen? Wenn diese Menschen es gut finden würden, dass all das mit schweren Leiden eines anderen Menschen erkauft wird – dann würden sie einem Irrtum aufsitzen.
Denn all das Gute, das aus dem Leiden entstehen sollte, wäre dann ja gar nicht vorhanden: Kein mitfühlender Mensch würde es gut finden, davon zu profitieren, dass ein anderer Mensch von schwerem Leiden gequält wird. Kein solidarischer Mensch würde es gut finden, kein Mensch von gutem Charakter, kein Mensch, der eine liebevolle Beziehung zum Leidenden hätte.

Die Idee, dass es gut sein könnte,
wenn einige Menschen sehr leiden,
damit andere, denen es ohnehin schon besser geht,
auch noch in den Genuss der Vorteile kommen,
die das Helfen für die Helfenden mit sich bringt –
diese Idee ist einfach absurd.
Wenn für einen Menschen
die eigenen Möglichkeiten, Hilfe zu leisten,
größere Bedeutung bekommen
als die Förderung des Wohlergehens der Hilfsbedürftigen,
dann deutet das auf eine ernste psychische Störung hin,
die der Psychologe Wolfgang Schmidbauer
als „Helfersyndrom“ bezeichnet hat.
 10

Für wen sonst könnte schweres Leiden
denn durch die behaupteten Auswirkungen
zu einer guten Sache werden?
Für niemanden,
dem am Wohlergehen von Menschen gelegen wäre.
Da könnte er noch so viel Freude haben
an menschlichem Mitgefühl, an menschlicher Solidarität
und an guten menschlichen Beziehungen.
Er würde diese Freude nicht damit erkaufen wollen,
dass jemand anders dafür leiden muss.
Dann wäre es keine Freude mehr –
weder für einen mitfühlenden Menschen
noch für einen gütigen Gott.

 
Dies ist nicht nur eine Frage der Bewertung.
Den Versuch, Leid dadurch zu rechtfertigen,
dass es die Voraussetzung für Mitleid und Barmherzigkeit sei,
konfrontierte der Philosoph Gerhard Streminger
mit der Behauptung,

„dass Mitleid und Barmherzigkeit
überhaupt keine Güter an sich sind.
Denn ihren Wert beziehen sie aus der Tatsache,
daß durch mitleidiges und barmherziges Verhalten
Leid vermindert wird; aber gäbe es überhaupt kein Leid,
so wären auch Mitleid und Barmherzigkeit keine Güter.“

Damit, so Streminger,
sei dieser Theodizee-Versuch „zirkulär“:

Gewisse Verhaltensweisen
würden als „Güter zweiter Stufe“ behauptet
und Leid mit dem Hinweis gerechtfertigt,
dass es notwendig sei zur Realisierung dieser Güter.
Aber Mitleid und Solidarität
seien nur deshalb Güter,
weil dadurch Leid vermindert wird.

     
(Gerhard Streminger,
      Gottes Güte und die Übel der Welt, S. 110)

Wie wenig eine zirkuläre Argumentation dieser Art
geeignet ist, Leid zu rechtfertigen,
sei an einem Beispiel verdeutlicht:

Angenommen, es gebe eine Krankheit K,
gegen die man nur immun werden kann,
indem man sie durchmacht.
Immunität gegen K ist dann fraglos eine nützliche Sache –
da, wo es K gibt und man sich damit infizieren kann.
Aber diese Immunität ist kein „Gut an sich“:
Auf einer einsamen Insel, wo es K bislang nicht gibt,
wäre eine Immunität gegen K ohne jeden Nutzen.
Es wäre völlig absurd,
würde jemand die Bewohner absichtlich mit K infizieren,
um auch ihnen zur Immunität gegen K zu verhelfen.
Gütig wäre es gewiss nicht.

 
Wie kommen eigentlich intelligente Menschen auf die Idee,
Leiden zu einer letztlich guten Sache zu erklären?
Die Ursache liegt in dem Streben, einen Glauben zu rechtfertigen,
nach dessen Dogmen alles, was existiert, letztlich gut sein muss;
denn das müsste es, wenn es von einem gütigen Gott gewollt
und kraft seiner Allmacht so herbeigeführt worden wäre.

Ein solcher Glaube kann offensichtlich dazu führen,
dass Menschen nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden können.
 

Reife

Leiden habe einen guten Sinn darin, dass es Menschen reifer werden lasse, haben Gläubige argumentiert. So beispielsweise der britische Theologe und Religionsphilosoph John Hick: Nur in einer Welt mit Herausforderungen, Leid und Gefahren sei eine personale Reifung des Menschen möglich, nur dort könnten sich Charakterzüge wie Mut, Tapferkeit oder Mitleid herausbilden. In einem hedonistischen Paradies könnten sich diese Eigenschaften nicht entwickeln. Die personale Reifung ist für Hick das Ziel des Menschen. (referiert im Skript einer Vorlesung von Prof. Armin Kreiner (PDF) Disclaimer)

Beliebt ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich:
„Man kann sich ‚Gott’ als Vater/Mutter vorstellen und durchaus nach denselben Kriterien beurteilen wie menschliche Eltern. Ein guter Vater, der will, daß sein Nachwuchs zu seinem Ebenbild (bzw. einem vollwertigen Menschen oder einer vollwertigen Seele) wird, wird ihn lernen lassen – inklusive schmerzhafter Erfahrungen. ... Wer seinen Nachwuchs stets ängstlich von allen Gefahren abschirmt oder sie immer bloß verwöhnt, bekommt unselbstständige, egoistische, undankbare Kinder – kurz verzogene Gören, die dann ihrem Glück nicht selten selbst im Wege stehen.“
Dieser Vergleich wurde von „Jay Ray“ im Philosophie-Forum vorgestellt. 11

Ein Vergleich, der gerade da hinkt, wo er etwas zeigen soll. Gute
Eltern lassen ihre Kinder gelegentlich schmerzhafte Erfahrungen machen – aber innerhalb vernünftiger Grenzen. Wo Lebensgefahr droht oder die Gefahr erheblicher Gesundheitsschäden, da tun gute Eltern das Ihre, um ihre Kinder zu schützen. Um ihre Kinder vor genau den Leiden zu bewahren, die Zweifel begründen, ob ein gütiger Gott so etwas wollen könnte. Der Vergleich mit dem Verhalten guter Eltern geht gerade an den Fällen vorbei, die das Theodizee-Problem so schwierig machen für die Gläubigen.

Nicht nur Eltern versuchen, Menschen vor Leiden zu bewahren.
Größere Gemeinschaften verfolgen das gleiche Ziel, indem sie Gesetze schaffen, die Mord, Körperverletzung und andere Gewalttaten verbieten und unter Strafe stellen, und indem sie Polizisten, Staatsanwälte und Richter beauftragen, die Gesetze durchzusetzen und Verstöße gegen diese Gesetze zu bestrafen.
Wir sind überzeugt, dass wir Mörder und andere Gewalttäter bestrafen dürfen, weil wir überzeugt sind, dass es schlecht ist, wenn Gewalttäter anderen Menschen Leiden zufügen oder Mörder ihnen das Leben nehmen. Dass das etwas Gutes sein könnte, weil Menschen durch Leiden unter Gewaltverbrechen oder durch Trauer um einen Ermordeten reifer werden könnten, auf die Idee kommt normalerweise kein Mensch. Normalerweise würde jeder das als absurd zurückweisen. So normal denken einige Menschen aber dann nicht, wenn es gilt, ein religiöses Dogma zu verteidigen.

Gläubige könnten einwenden, der menschliche Täter wisse ja nicht,
in welchen Fällen der Schaden durch das Leiden größer ist und
in welchen Fällen der Nutzen durch das Reiferwerden und/oder
durch die zwischenmenschliche Hilfe. Ein allmächtiger Gott wisse das aber sehr wohl.

Jedes Leiden, das von einem menschlichen Täter verursacht wird, ist – sofern es einen allmächtigen Gott gibt – zugleich ein Leiden, das von diesem allmächtigen Gott zugelassen wird. Ein und dasselbe Leiden kann nicht im einen Fall eine schlechte Sache sein und im anderen Fall eine gute Sache.

Außerdem sieht es nicht so aus, als wenn Leiden vor allem da auftreten würde, wo es positive Auswirkungen gibt: wo Menschen reifer werden, belastbarer, geduldiger und einfühlsamer für andere Menschen. Manchmal können sich solche positiven Auswirkungen nicht entfalten, weil der Leidende stirbt. Und wo es Auswirkungen gibt, sind sie nicht immer positiv. Allzu oft ist das Gegenteil zu beobachten: Es gibt leidende Menschen, die immer wieder schlechte Laune haben und sie an anderen Menschen auslassen. Es gibt leidende Menschen, deren Gedanken in einem fort um ihr eigenes Leiden kreisen, sodass sie kaum noch Interesse aufbringen für das, was in anderen Menschen vorgeht. Es gibt leidende Menschen, die resigniert und kleinmütig, ja apathisch werden. Es gibt Menschen, die unter der Last ihres Leidens zusammenbrechen, die depressiv werden oder abhängig von Alkohol oder Medikamenten, oder die sich gar das Leben nehmen.
 

Prüfung

Leiden würden dazu dienen, die Menschen zu prüfen –
so haben nicht wenige Gläubige
die Existenz schwerer Leiden zu erklären versucht.
Beispielsweise im Buch Hiob in der Bibel.

Wenn diese Erklärung ein Versuch einer Theodizee sein soll,
dann ist sie aus verschiedenen Richtungen angreifbar:

Einerseits:
Würde ein gütiger Gott aus purer Wissbegier
einem Menschen schweres Leiden zufügen?
Wenn ein Gott so etwas täte,
wäre das nicht ein Zeichen von mangelnder Güte?

Andererseits:
Wenn ein allmächtiger und gütiger GottTP
großen Wert darauf legen würde,
etwas über einen Menschen herauszufinden –
wäre er dann nicht infolge seiner Allmacht in der Lage,
das auf andere Weise herauszufinden,
ohne dem Menschen so schweres Leiden zuzufügen?

Kein Wunder, dass Gläubige ihre Erklärung,
dass Gott die Menschen prüfe,
nicht selten mit der Behauptung verbinden,
diese Prüfung sei auch von Nutzen für die Menschen,
denn sie habe positive Auswirkungen auf ihren Charakter.

Wie bereits ausgeführt,
bleiben solche positiven Auswirkungen manchmal aus,
und nicht selten tritt sogar eher das Gegenteil ein.
    

Lieber kein Schlaraffenland

„Würde es uns denn in einer Welt gefallen,
in der uns alles in den Schoß fiele
und alle Hindernisse aus dem Weg geräumt würden?“ –
In diesem Sinne antwortete mir eine Christin,
als ich sie in einem Privatbrief auf das Theodizee-Problem ansprach.

Ich glaube auch nicht, dass es uns in einer solchen Welt gefallen würde. Auf die Dauer würden wir uns wohl fürchterlich langweilen.

Auf die Dauer würden wir uns sicherlich wohler fühlen in einer Welt, in der wir uns manchmal abmühen und Hindernisse überwinden müssen, um bestimmte Ziele zu erreichen; um so größer ist am Ende die Freude.
Und auf die Dauer würden wir uns sicherlich wohler fühlen,
wenn wir uns ab und an einmal ärgern müssen, weil der Erfolg unserer Bemühungen allzu lange auf sich warten lässt oder ganz ausbleibt; um so mehr freuen wir uns, wenn wir doch Erfolg haben.

Aber ist dies eine Lösung des Theodizee-Problems? Könnte ein gütiger GottTP deshalb eine Welt so voller Leiden geschaffen haben?

Nein. Eine gewisse Portion an unangenehmen Erfahrungen mag uns einen Gewinn an Lebensfreude bescheren. Wie eine kleine Prise Salz manchen Speisen mehr Wohlgeschmack verleiht. Das heißt aber nicht, dass noch mehr noch besser wäre. Ein Übermaß an Salz verdirbt den Geschmack der Speisen, und ein Übermaß an Leiden verdirbt die Freude am Leben.
 

Freier Wille

„Gott hat den Menschen weder als Marionette noch als Roboter erschaffen, sondern ihn mit der besonderen Gabe des freien Willens beschenkt“, so schwärmt Landesrabbiner Henry G. Brandt (Saar-Echo vom 10.12.2005). „Die Entscheidung über Tun und Nichtstun ist ihm überlassen, unter der Voraussetzung, dass die daraus sich ergebenden Folgen zu tragen sind.“

„Nur zu oft von anderen!“, möchte ich da hinzufügen.
Gilt diesem Gott der freie Wille des Mörders, der morden will, mehr als der freie Wille des Opfers, das leben will?!

Bei aller Abneigung gegen die Idee, Gott könnte den menschlichen Willen manipulieren und so den Menschen zur Marionette machen – für einen allmächtigen Gott wäre das kein Grund, potentiellen Opfern seinen Schutz zu versagen. Ein allmächtiger Gott bräuchte dazu nicht in den Willen des potentiellen Täters einzugreifen.
Er könnte ihn von außen daran hindern, seine Tat durchzuführen.
Wie wir ja auch von unserer Polizei erwarten, dass sie
potentielle Opfer schützt, wenn sie Gelegenheit dazu bekommt.
Wir wären äußerst befremdet, würde die Polizei stattdessen
den „freien Willen“ des potentiellen Mörders respektieren und
den Mord geschehen lassen. „Gütig“ würden wir so ein Verhalten gewiss nicht nennen.

Auf den „freien Willen“ verweisen Gläubige auch da, wo Dinge geschehen, die niemand gewollt hat. So schreibt die (damalige) Landesbischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Frau Dr. Margot Käßmann: „Wir als Menschen freuen uns über den freien Willen ... Aber dann müssen wir auch Verantwortung übernehmen für unser eigenes Tun, für ungerechte Strukturen, für Krieg und Ungerechtigkeit. Auch dafür, dass in Erdbebengebieten unsicher gebaut wird und die Kräfte der Natur unterschätzt werden.“ (Saar-Echo vom 30.11.2005).

Richtig, auch da tragen wir Verantwortung. Nur, was haben die Erdbeben mit dem freien Willen zu tun? Wäre unser Wille weniger frei, wenn es keine gefährlichen Erdbeben gäbe? Wäre er nicht sogar noch freier, wenn wir mehr Möglichkeiten hätten, genau das zu erreichen, was wir wollen? Wenn wir nicht bei jeder Entscheidung irgendwelche Dinge in Kauf nehmen müssten, die wir eigentlich nicht wollen? Einsturzgefahr bei Billigbauten in Erdbebengebieten, hohe Kosten bei Bauten mit größerer Erdbebensicherheit, Arbeitslosigkeit und Not bei Verlassen der Erdbebengebiete ...
 

Verantwortung

„Dieses Prinzip der Verantwortung ist den Evangelischen immens wichtig“, fährt Frau Dr. Käßmann fort.

Ja, und es scheint, als wolle Frau Dr. Käßmann sehr viele Menschen in diese Verantwortung einschließen. Sie schließt sich selbst mit ein, wenn sie davon spricht, dass „wir“ Verantwortung übernehmen sollten für unsichere Bauten in Erdbebengebieten. Wieso eigentlich? Hat die Bischöfin persönlich solche Bauten errichtet oder in Auftrag gegeben? Vermutlich meint sie es anders. Vermutlich denkt sie an die „ungerechten Strukturen“, in denen arme Menschen genötigt sind, Billigbauten in Erdbebengebieten zu bewohnen. Vermutlich meint sie, dafür wäre fast jeder Mensch irgendwie mitverantwortlich; wer könnte schon von sich sagen, er hätte genug dagegen getan?

Mit einer solchen Argumentation kann man es schaffen, fast jeden Menschen für fast alles Unglück dieser Welt verantwortlich zu machen. Ob es gut ist, so etwas zu predigen – oder ob man damit nur den Unterschied zwischen Tätern und Unbeteiligten verwischt und obendrein vielen gutwilligen Menschen unnötigen Kummer bereitet – das ist ein anderes Thema.

Warum ist „dieses Prinzip der Verantwortung“ denn den Evangelischen so „immens wichtig?“ – Eine mögliche Erklärung wäre: Je tiefer die Unzufriedenheit mit dem eigenen Verhalten, um so einleuchtender die Vorstellung, man bedürfe der Vergebung und Erlösung, wie sie die christliche Botschaft verspricht. Damit wäre erklärt, was „dieses Prinzip der Verantwortung“ für den christlichen Glauben als ganzen bedeuten kann.

Was es jedoch mit dem Theodizee-Problem zu tun haben könnte, das spricht Frau Dr. Käßmann nicht so unumwunden aus wie andere Gläubige.

Einen Zusammenhang zwischen Theodizee-Problem und menschlicher Verantwortung stellt Herr Oliver Nemitz folgendermaßen her: „Ohne jemandem zu Nahe treten zu wollen, denke ich, dass wir durch solche Fragen die Verantwortung für manches Leid auf Gott schieben wollen, die wir eigentlich selbst zu tragen haben.“ Einige Beispiele, wie Menschen Leid verursachen, kommentiert Herr Nemitz: „... aber Gott ist dafür nicht verantwortlich. Menschen begehen solche Taten und nur Menschen tragen auch die Verantwortung dafür.“
     (http://www.olivernemitz.de/Religion/Leid.htm Disclaimer)

„Entweder – oder“, scheint Herr Nemitz zu meinen.
Entweder könnte Gott verantwortlich gemacht werden,
dann wären die Menschen nicht verantwortlich.
Oder die Menschen wären verantwortlich,
und dann wäre Gott nicht verantwortlich.

Eine solche Entweder-oder-Logik ist nicht zwingend.
Im Alltagsleben gibt es Gegenbeispiele.
Wenn ein Kaufhausdetektiv nachlässig arbeitet und infolgedessen die Ladendiebstähle sich häufen, dann würde es ihm wenig helfen zu erklären: „Verantwortlich für die Diebstähle sind doch die Diebe!“ Sein Chef würde ihn vermutlich auslachen.
Erst recht würde es einem Dieb nicht helfen zu erklären: „Verantwortlich für meine wiederholten Diebstähle ist der Kaufhausdetektiv! Er hätte mich
doch gleich beim ersten Versuch ertappen können!“
Es hilft wenig, auf die Verantwortung eines anderen hinzuweisen; seine Verantwortung schließt die eigene Verantwortung nicht aus.

Ähnliches lässt sich sagen, wenn nach Unglücksfällen versucht wird, die Verantwortung von Menschen und die Verantwortung eines allmächtigen GottesTP gegeneinander auszuspielen. Zum Beispiel, wenn bei einem Erdbeben Billigbauten eingestürzt sind und schwere Verletzungen und Todesfälle verursacht haben. Dann könnten beide Seiten Verantwortung tragen: Die Menschen, die gewusst hätten, dass dort mit heftigen Erdbeben zu rechnen ist, und die trotzdem aus Geiz oder Leichtsinn dort Billigbauten errichtet hätten – und ein allmächtiger GottTP, der gewusst hätte, dass die Billigbauten bei heftigen Erdbeben einstürzen würden, und der dennoch keinen Gebrauch von seiner Allmacht gemacht hätte, um die heftigen Erdbeben zu verhindern.

Zwischenergebnis:

Die Verantwortung von Menschen
schließt die Verantwortung eines allmächtigen GottesTP nicht aus.
Die Verantwortung eines allmächtigen GottesTP
schließt die Verantwortung von Menschen nicht aus.

Das bedeutet für die Verantwortung GottesTP:

Mit Hinweisen auf die Verantwortung von Menschen kann man vielleicht von der Verantwortung eines allmächtigen GottesTP ablenken. Man kann damit vielleicht vom Theodizee-Problem ablenken. Lösen kann man es auf diese Weise nicht.

Einen Grund dafür hat auch Herr Nemitz erkannt; er schreibt:
„Die bisherigen Ausführungen beantworten die Frage nach dem Leid aber nur teilweise, denn es gibt auch Leid, für das die Menschen nicht verantwortlich sind, z.B. bei Naturkatastrophen.“
Jedoch auch in Fällen, in denen Menschen verantwortlich sind,
würde ein allmächtiger GottTP Verantwortung tragen.
Das folgt aus der Definition der Allmacht:
Ein allmächtiger GottTP könnte bewirken,
geschehen lassen oder verhindern, was auch immer er will.
Damit wäre ein allmächtiger GottTP verantwortlich für alles,
was er bewirkt, was er geschehen lässt und was er verhindert.
Er wäre verantwortlich für alles, was geschieht.

Einige Autoren des Alten Testaments
scheinen das sehr klar gesehen zu haben.
In Jesaja 45,6-7 werden Gott die Worte in den Mund gelegt:
„Ich bin der HERR – und sonst keiner –, der das Licht bildet
und die Finsternis schafft, der Frieden wirkt und das Unheil schafft.
Ich, der HERR, bin es, der das alles wirkt.“
Und in Amos 3,6 heißt es:
„Geschieht etwa ein Unglück in der Stadt,
und der HERR hat es nicht bewirkt?“
Diese Worte aus alter Zeit
könnten manch einem Christen von heute zur Warnung dienen,
das Theodizee-Problem nicht zu unterschätzen.

Das bedeutet für die Verantwortung von Menschen:

Um ihre eigene Verantwortung ginge es denen,
die die Theodizee-Frage aufwerfen, behauptete Herr Oliver Nemitz: „... denke ich, dass wir durch solche Fragen die Verantwortung für manches Leid auf Gott schieben wollen, die wir eigentlich selbst zu tragen haben.“

Auf eine unbequeme Frage reagiert Herr Nemitz mit der Unterstellung unlauterer Motive.
Das ist nichts als ein rhetorischer Trick:
ein Versuch, mit dem Fragenden
auch die Frage in ein ungünstiges Licht zu rücken.
Bei Licht betrachtet sagen die Motive des Fragenden
herzlich wenig darüber aus, ob eine Frage berechtigt ist oder nicht.

Trotzdem sei näher untersucht,
was es mit dem von Herrn Nemitz unterstellten Motiv auf sich hat.

Herr Nemitz kritisiert schon die Aussage, dass Gott Verantwortung trage für das Leid, das von Menschen herbeigeführt wurde. Aber stammt diese Aussage von denen, die das Theodizee-Problem aufwerfen? Sieht man genauer hin, dann stellt man fest: Die Aussage „Gott trägt Verantwortung für alles, was geschieht“ ist nur die logische Schlussfolgerung
aus der Aussage „Gott ist allmächtig“;
ob Herr Nemitz das nun zugibt oder nicht.
Ursprünglich stammt die Aussage „Gott trägt Verantwortung für alles, was geschieht“ also von denen, die einen allmächtigen Gott verkünden. Diejenigen, die das Theodizee-Problem aufwerfen, weisen lediglich auf diese Verantwortung hin.
Das mag einigen Gläubigen missfallen.
Aber wenn sie die kritisieren, die darauf hinweisen,
gleichen sie Menschen, die einen Spiegel dafür kritisieren,
dass er kein schöneres Spiegelbild zeigt.

Wenn man von der eigenen Verantwortung ablenken will,
dann hat man vielleicht ein Motiv, auf die Verantwortung Gottes
für alles Geschehen hinzuweisen. Aber hat man dann auch ein Motiv, die Theodizee-Frage zu stellen? Hat man dann auch ein Motiv, sich mit dieser Frage ernsthaft und ergebnisoffen auseinanderzusetzen?

Eher nicht. Ergebnisoffen darüber nachzudenken bedeutet, auch den Zweifel zuzulassen,
ob die Lehre vom allmächtigen und gütigen GottTP denn wahr ist.
Ob es wirklich einen allmächtigen und gütigen GottTP gibt; vielleicht sogar, ob es überhaupt einen Gott gibt.
So riskiert man, am Ende ohne einen Gott dazustehen, den man verantwortlich machen könnte.

Wer das riskiert, tut es bestimmt nicht, um seine Verantwortung auf Gott zu schieben. Im Gegenteil, das riskiert nur, wer den Mut hat, seine Verantwortung selbst zu tragen.

Wer hingegen seine Verantwortung nicht selbst tragen will und sie lieber ganz auf Gott schieben will – wer die Verantwortung guten Gewissens allein Gott überlassen will – der braucht einen Gott, der dieser Verantwortung gerecht würde. Den könnte er finden in jenem allmächtigen und gütigen GottTP, der, nach Ansicht des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz, gewiss dafür sorgen würde, dass diese Welt nur die „beste aller möglichen Welten“ sein kann.

Gerade wer die Verantwortung allein Gott überlassen will, hätte ein Motiv, am Glauben an einen allmächtigen und gütigen GottTP unbeirrbar festzuhalten. Ein Motiv, diesen Glauben nicht durch eine ergebnisoffene Beschäftigung mit dem Theodizee-Problem zu gefährden.

„Ja, gibt es denn so was?!“, könnte jetzt jemand erstaunt fragen. „Gibt es wirklich Menschen, die im Ernst meinen, sie könnten die ganze Verantwortung Gott überlassen und bräuchten sich für nichts mehr verantwortlich zu fühlen?“

So etwas gibt es. Sogar dann, wenn es um die folgenreichsten Entscheidungen geht; wie um die Entscheidung über einen Atomkrieg, der die gesamte Menschheit vernichten könnte. Dazu schrieb kein Geringerer als der Jesuit Gustav Gundlach, Professor (und zeitweilig Rektor) der päpstlichen Gregoriana in Rom: „... wir haben erstens sichere Gewissheit, dass die Welt nicht ewig dauert, und zweitens haben wir nicht die Verantwortung für das Ende der Welt. Wir können dann sagen, dass Gott der Herr, der uns durch seine Vorsehung in eine solche Situation hineingeführt hat oder hineinkommen ließ, wo wir dieses Treuebekenntnis zu einer Ordnung ablegen müssen, dann auch die Verantwortung übernimmt.“
      (zitiert nach Karlheinz Deschner, Abermals krähte der Hahn,
      Seite 656 im Taschenbuch von Moewig)

So wenig sind sich einige gläubige Menschen ihrer Verantwortung bewusst für die Folgen ihrer Entscheidungen. Das ist erschreckend. Und es kann gefährlich werden, wenn Menschen mit einer solchen Einstellung die Macht in die Hände bekommen, über Leben und Tod ihrer Mitmenschen zu entscheiden.

Dabei sind diese Menschen nicht einfach Asoziale, denen es gleichgültig ist, wie es ihren Mitmenschen ergeht. Gustav Gundlach SJ hat sich viele Gedanken darüber gemacht, wie Menschen sich verhalten sollten; u. a. hat er während der 30er Jahre wesentlich an einer nie veröffentlichten Enzyklika Pius XI. gegen Rassismus und Antisemitismus mitgearbeitet (www.perlentaucher.de Disclaimer).
Die Einstellung, Menschen wären unter Umständen nicht verantwortlich, wenn sie die Vernichtung der Menschheit herbeiführten, beruht keineswegs auf einem schlichten Charakterfehler. Sie beruht auf einem bestimmten Glauben:
auf dem Glauben an einen allmächtigen und  gütigen GottTP.
 

Der Teufel

„Wir Christen habens uns doch leicht gemacht, um mit Gott nicht hadern zu müssen: Alles Gute kommt von Gott - für das Schlechte wird der Teufel verantwortlich gemacht.....“, schrieb „schorsch“
      (seniorentreff.de Disclaimer)

Wenn das ein Versuch zur Lösung des Theodizee-Problems sein soll, müsste die Frage beantwortet werden:
Könnte Gott verhindern, dass der Teufel Schaden anrichtet,
oder könnte er es nicht?

1. Möglichkeit:
Gott könnte nicht verhindern, dass der Teufel Schaden anrichtet.

Dann wäre Gott nicht allmächtig. Wer sich für diese Möglichkeit entscheidet, der entscheidet sich gegen die Lehre vom allmächtigen und gütigen GottTP.

2. Möglichkeit:
Gott könnte verhindern, dass der Teufel Schaden anrichtet.

Dann wäre Gott mitverantwortlich für jeden Schaden, den er nicht verhindert. Dann gilt für den Hinweis auf die angebliche Verantwortung des Teufels das Gleiche wie für Hinweise auf die Verantwortung von Menschen: Sie ändern nichts daran, dass ein allmächtiger GottTP verantwortlich wäre für alles, was geschieht.

Für die 2. Möglichkeit hat sich die Römisch-Katholische Kirche entschieden. Im Katechismus der Katholischen Kirche Disclaimer heißt es unter Nr. 395: „Satan ist auf der Welt aus Hass gegen Gott ... tätig. Sein Tun bringt schlimme geistige und mittelbar selbst physische Schäden über jeden Menschen und jede Gesellschaft. Und doch wird dieses sein Tun durch die göttliche Vorsehung zugelassen, welche die Geschichte des Menschen und der Welt kraftvoll und milde zugleich lenkt. Dass Gott das Tun des Teufels zulässt, ist ein großes Geheimnis ...“

Den Autoren scheint klar zu sein:
Der Hinweis auf das „Tun des Teufels“
liefert keine Antwort auf die Theodizee-Frage.

Dies „große Geheimnis“ lässt der Katechismus-Absatz ein Geheimnis bleiben. Er lässt einen Bibelspruch folgen: „Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt“ (Brief des Paulus an die Römer 8, 28).

So ein Bibelspruch mag Menschen zufrieden stellen, die alles für bare Münze halten, was in der Bibel steht. Wer kritischer hinsieht, stellt fest: Von „Wissen“ kann keine Rede sein. Was Paulus da verkündet, das ist bestenfalls Glaubenssache. Es darf ebenso angezweifelt werden wie die Theorien des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz, denen zufolge alles letztlich zu etwas Gutem führen würde, zur „besten aller möglichen Welten“.
  

Naturgesetze

„Gott ist nicht grausam ... Sondern, wenn ein Unglück passiert, ist es allemal die Eigengesetzlichkeit dieser Schöpfung. Wenn jemand vor das Auto läuft und überfahren wird, ist es kein grausamer Gott, sondern es sind die Naturgesetze. Wer so über die rote Ampel hinwegsieht, dem ist nicht zu helfen. Wunder sind für diese Fälle nicht vorgesehen. Es gibt kein Menschenrecht auf Wunder“, sagte der Heidelberger Dozent für Neues Testament, Klaus Berger
      (Zwischenspeicher von G o o g l e für
     http://www.evangelische-kirchenzeitung.de/200213/glaube.htm
     nach dem Stand vom 29. Apr. 2006 12:16:38 GMT.
 Disclaimer).

Natürlich hätte der Mensch in diesen Fällen keinen Rechtsanspruch darauf, von GottTP durch ein Wunder gerettet zu werden.

Aber würde ein gütiges Wesen nach Rechtsansprüchen fragen? Hätte es nicht schon aus Mitleid den Wunsch, Rettung zu bringen, unabhängig von Rechtsansprüchen, als ein freiwilliges Geschenk seiner Güte?

Die Naturgesetze wären für einen allmächtigen GottTP kein unüberwindliches Hindernis. Es läge bei ihm, ob er schützend eingreift, oder ob er den Naturgesetzen ihren Lauf lässt und Menschen zu Schaden kommen lässt. Er wäre verantwortlich für die Folgen.

Der allmächtige Gott lenke die Welt „unter voller Respektierung der Naturgesetze“, schreibt der Theologe Hans Küng („24 Thesen zur Gottesfrage“, S. 96f).

Gott „respektiert“ die Naturgesetze, das scheint zu heißen: Er hält sich freiwillig daran, obwohl er auch anders könnte. Als allmächtiger GottTP müsste er auch anders können.

Dann wäre die Frage: Warum will er nicht anders? Warum will er bei den Naturgesetzen nicht mal Fünfe gerade sein lassen, wenn es darum geht, einen Menschen vor schweren Verletzungen zu bewahren? Was kann an den Naturgesetzen denn so wichtig sein?

„In einer chaotischen Welt“ würde „niemand die Konsequenzen seiner Entscheidung absehen“ können, heißt es in einer Antwort auf diese Frage. „Niemand könnte sich in verantwortlicher Weise für oder gegen etwas entscheiden. Gleiches würde für eine Welt gelten, die durch ein permanentes Eingreifen Gottes bestimmt würde.“ (referiert im Skript einer Vorlesung von Prof. Armin Kreiner (PDF) Disclaimer)

Eine Welt, in der wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen und Handlungen absehen können, hat zweifellos ihre Vorteile. Die Naturgesetze sind uns dabei eine Hilfe.
Aber müssen sie dazu ohne Ausnahme gelten?

Nein. Wir können die Konsequenzen unserer Entscheidungen und Handlungen immer dann absehen, wenn auf ähnliche Verhaltensweisen regelmäßig ähnliche Konsequenzen folgen. Ganz egal, wie diese Regelmäßigkeit zustande kommt: durch Naturgesetze oder dadurch, dass Gott regelmäßig in ähnlicher Weise eingreifen würde.

Ein allmächtiger Gott hätte sogar Möglichkeiten, so unauffällig einzugreifen, dass kein Mensch etwas von einer Verletzung von Naturgesetzen gemerkt hätte. Beispielsweise hätte ein allmächtiger Gott alle HI-Viren unauffällig vernichten können, bevor sich Menschen damit infizierten. Niemand hätte sich über das Ausbleiben von AIDS-Erkrankungen gewundert.

Niemand wäre in seiner Fähigkeit beeinträchtigt worden, die Konsequenzen seines Verhaltens abzusehen.
Im Gegenteil: Viele Ärzte hätten die Konsequenzen ihres Handelns besser vorhersehen können, als sie in den frühen 1980er Jahren ihren Patienten Bluttransfusionen gaben:
Das hätte nicht die völlig unvorhersehbare Folge gehabt,
dass einige der Patienten an AIDS erkrankten und bald starben.
 

Ewigkeit

„Da das zeitlich-irdische Leben zwar ein sehr hohes, aber nicht das höchste Gut ist, muss es weder von Gott noch von den Menschen mit allen Mitteln angestrebt werden. Das höchste Ziel bzw. Gut des Menschen ist nach dem christlichen Glauben das ewige Leben ...
Wenn nötig, kann Gott dafür auch das physische Übel einsetzen ...“, heißt es in einem „Lösungsansatz“ für das Theodizee-Problem im Artikel Theodizee Disclaimer in Wikipedia, Version vom 28.6.2006.
Ähnliche Gedanken finden sich schon in der Bibel; dort sagt Jesus:
„Es ist besser für dich, als Krüppel in das Leben hineinzugehen,
als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen, in das unauslöschliche Feuer.“ (Markus 9,43)

Wenn ein Großinquisitor so argumentieren würde,
um die Folterung eines Ketzers zu „rechtfertigen“,
dann läge darin noch eine gewisse Logik.

Wenn es aber um das Verhalten eines allmächtigen Gottes geht,
dann ist eine solche Argumentation einfach Unsinn.
Der Denkfehler besteht darin, davon auszugehen,
dass die Leiden „nötig“ wären.
Ein allmächtiger Gott hätte es aber nicht nötig,
deswegen Leiden zuzufügen.
Er hätte die Möglichkeit, einem jeden Menschen
ein angenehmes ewiges Leben zu verschaffen
und ihn vorm Feuer der Hölle zu bewahren.

Das wäre nicht genug, könnte ein gläubiger Mensch erwidern.
Es komme auch darauf an, gewisse Voraussetzungen zu erfüllen.

Gewiss kann der Gläubige es für sehr wichtig halten,
dass ein Mensch in seinem irdischen Leben
gewisse Verhaltensweisen an den Tag legt
und/oder gewisse Charakterzüge entwickelt.
Dann könnte er versuchen zu begründen,
warum diese Verhaltensweisen und/oder Charakterzüge
so wichtig sein sollen, dass ihre Herbeiführung
selbst schweres Leiden rechtfertigen könnte.
Das wäre dann ein anderes Argument.
Dabei ginge es um die Verhaltensweisen und/oder Charakterzüge, nicht um das ewige Leben.
Denn für einen allmächtigen Gott bestünde keinerlei Notwendigkeit, diese Verhaltensweisen und/oder Charakterzüge zur Voraussetzung für ein angenehmes ewiges Leben zu machen.
 

Gottes Ruhm

Im Evangelium nach Johannes ist am Anfang des 9. Kapitels zu lesen: „Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“ Danach soll Jesus den Blinden geheilt haben.

Man mag es ja erfreulich finden, dass Jesus hier der Auffassung entgegentrat, das Unglück eines Menschen wäre ein Grund zu der Annahme, dass dieser Mensch gesündigt haben müsste, oder seine Eltern.

Doch bietet Jesu Erklärung keinen Grund zu ungetrübter Freude. Nur damit „das Wirken Gottes offenbar werden“ soll,
nur damit Jesus
das durch eine Wunderheilung offenbar werden lassen konnte,
hätte ein Mensch sein Leben von Geburt an
mit einer schweren Behinderung verbringen müssen?!
Das könnte das Verhalten eines selbstherrlichen Gottes erklären,
dem sein eigener Ruhm über alles ginge.
Nicht jedoch das Verhalten eines gütigen GottesTP.
 

Bewertungen

Gott bewerte manches anders als wir Menschen, argumentieren Gläubige.

„... dass das Sein und die Existenz an sich gut sind, auch wenn die Menschen dies oft nicht verstehen. Das impliziert die Überzeugung, dass das bloße Dasein der Welt ein Akt göttlicher Güte uns gegenüber ist“, heißt es in einer Darstellung der Auffassungen des jüdischen Gelehrten Maimonides (1138-1204) (www.hagalil.com Disclaimer).

Das klingt gerade so, als machten die Menschen einen Fehler,
wenn sie die Auffassung, dass das Sein und die Existenz
„an sich gut“ seien, nicht vorbehaltlos teilen.
Wenn sie Fragen stellen wie: Was ist mit den Menschen,
denen es so schlecht geht, dass sie nichts mehr herbeisehnen
als ein Ende ihrer Existenz im Tode? Wie sollten sie ihre Existenz
als „an sich gut“ ansehen? Und wenn nicht – soll man dann etwa
sagen, sie hätten irgendetwas nicht richtig verstanden?

Nein. Ob etwas „gut“ ist oder nicht, das lässt sich nicht objektiv
und allgemeinverbindlich feststellen. Ob jemand etwas als „gut“
bewertet, das hängt nicht nur von Tatsachen ab – die man
objektiv und allgemeinverbindlich feststellen könnte – sondern
auch von den Gefühlen, die er den Tatsachen entgegenbringt.
Da kann es vorkommen, dass eine Tatsache bei verschiedenen
Personen unterschiedliche Gefühle auslöst und infolgedessen
unterschiedlich bewertet wird, ohne dass man sagen könnte,
dass die eine Person Recht hätte und die andere Unrecht.

Wenn es um die Entscheidung geht, wie es jemandem ergehen soll, wessen Gefühle und Bewertungen sind dann besonders wichtig?
Die des Betroffenen, sollte man meinen.
Jedes gütige Wesen würde es so sehen.
Einem gütigen Wesen läge es fern,
die eigenen Vorlieben für das einzig Maßgebliche zu halten
und die Gedanken und Gefühle der Betroffenen
als unbedeutend abzutun.
Ein gütiges Wesen würde sich für die Gedanken und Gefühle
der Betroffenen sehr interessieren. Es würde diese Gedanken
und Gefühle bei der Bildung seiner eigenen Bewertungen
einbeziehen. Es würde sich nicht darüber hinwegsetzen,
wenn es nicht einen schwerwiegenden Grund dafür hätte.
„Ich bin so großartig, ich bin so klug, ich weiß alles am besten“,
das allein wäre kein hinreichender Grund für ein gütiges Wesen.

Bewertungen spielen auch dann eine Rolle,
wenn die Alternative nicht lautet:
„Existenz unter schwerem Leiden oder Nicht-Existenz?“
sondern:
„Existenz mit oder ohne das schwere Leiden?“

Auch dann gilt:
Ein Wesen, das in dieser Frage seine eigenen Vorlieben
als das einzig Maßgebliche betrachten würde
und sich ungerührt über die Gedanken und Gefühle
der Betroffenen hinwegsetzen würde,
ein solches Wesen würde es an Güte fehlen lassen.

„... dass wir Menschen unterschätzen, wie hoch Gott die menschliche Freiheit bewertet. Ohne sie wären die Menschen unfähig, Gott zu begegnen, wirkliches Glück in der Gottesliebe zu finden und von Gott geliebt zu werden. Es mag für immer unser Begreifen übersteigen, wie Gott einen solchen Preis für die Freiheit des Menschen, ihn zu lieben, akzeptieren konnte. Doch für den Christen hat dieses Geheimnis ... sein Gegenstück in der Tatsache, dass Gott sich selbst nicht von diesem Leiden ... ausnahm. Da das Wort Gottes Mensch wurde in der Inkarnation, in seinem Leben, seinem Leiden und Tod am Kreuz, bezahlte Gott selbst den äußerst möglichen Preis für die Freiheit des Menschen, Gott zu lieben.“ – Mit diesem Zitat von Schmitz-Moormann schließt ein Aufsatz auf einer Internet-Seite der Mission der Deutschen Dominikaner.
      (Theodizee: Befreit uns Gott von Übel und Leid?,
       http://www.dominikaner-
       mission.de/befreiungstheologie/theodizee_gott.php
      (Link nicht mehr aktiv)
 Disclaimer)

Nur am Rande sei hier bemerkt: Es mag noch einleuchten,
dass der Mensch für die Freiheit, Gott zu lieben,
die Freiheit gebraucht haben könnte, Gott nicht zu lieben.
Aber hätte er dafür die Freiheit gebraucht,
zu foltern und zu morden?

Thema an dieser Stelle sind Bewertungen. Dazu ist festzuhalten: Selbst wenn Gott einen noch so hohen Preis gezahlt hätte für seine Bewertungen – es hätte seine Bewertungen nicht zu unseren Bewertungen gemacht.

Die Bewertungen und Gefühle der Betroffenen aber sind es,
die einem gütigen Wesen wichtig wären bei seinen Entscheidungen.
 

Auswertung

Im Theodizee-Problem haben viele Theologen und Philosophen eine Herausforderung gesehen,
einen ernst zu nehmenden Einwand
gegen den Glauben an einen allmächtigen und gütigen GottTP.

Mögliche Reaktionen:

1. Versuche, diesen Einwand zu widerlegen

2. Versuche, diesen Einwand für irrelevant zu erklären
oder gar für illegitim

3. Die Einsicht, dass dieser Einwand völlig berechtigt ist
und dass die Lehre vom allmächtigen und gütigen GottTP
damit widerlegt ist
 

1. Möglichkeit der Reaktion:
Versuche, den Einwand zu widerlegen

Auf dieser Seite hier – im dritten Teil meines Aufsatzes –
habe ich solche Versuche der Widerlegung vorgestellt:
Angebliche Lösungen des Theodizee-Problems.

Vielen dieser angeblichen Lösungen gemeinsam ist die Erklärung,
die vorhandenen Übel seien notwendig:
um schlimmere Übel zu vermeiden,
oder um höchst erstrebenswerte Ziele zu erreichen,
erstrebenswert genug, um dafür gewisse Übel in Kauf zu nehmen.
Daneben gab es Versuche, die Übel für bedeutungslos zu erklären.
So wurde eine umfangreiche Sammlung an Erklärungsversuchen zusammengetragen.

Aber eine überzeugende Lösung des Theodizee-Problems,
die die Lehre vom allmächtigen und gütigen GottTP
als glaubhaft erweisen könnte, wurde damit nicht gefunden.

Da hilft es nicht viel, wenn man argumentiert,
mit all den Erklärungsversuchen sei man einer Lösung so nahe gekommen, dass man in den restlichen ungelösten Fragen
kein Problem mehr zu sehen brauche.
Dass man erwarten dürfe,
dass es auch auf diese Fragen eine Antwort geben müsste,
da man schon in so vielen Fällen eine Erklärung für das Leiden
gefunden zu haben meint.

Vielmehr versagen all die Erklärungsversuche gerade da, wo das Theodizee-Problem besonders schwierig ist. Wo Menschen von besonders schwerem Leiden betroffen sind, und wo man beim besten Willen keinen Sinn in diesem Leiden zu erkennen vermag.
 

Einige der Erklärungsversuche machen das Problem nicht besser, sondern eher noch schlimmer. Etwa wenn erklärt wird, es wäre gut, wenn die einen leiden, damit Glücklichere helfen können. Oder wenn die einen verletzt werden und sterben müssen, damit Mörder und Gewalttäter nach ihrem „freien Willen“ handeln können.

Dabei zeigt sich in derlei absurden Vorstellungen nur der Widersinn, der schon in der Lehre vom allmächtigen und gütigen GottTP angelegt ist. Die logische Konsequenz dieser Lehre ist schließlich,
was der englische Dichter und Philosoph Alexander Pope (1688-1744) in einem vielzitierten Gedicht in die Worte gefasst hat:
“Whatever is, is right”,
in deutscher Prosa:
„Was auch immer da ist, was auch immer geschieht, es ist gut so.“
Die logische Konsequenz ist, dass alles, aber auch alles auf dieser Welt „gut so“ genannt werden müsste;
selbst die schlimmsten Verbrechen, selbst die qualvollsten Leiden
müssten „gut so“ genannt werden.

So ist im Grunde
schon die Behauptung
„Es gibt einen Gott, und er ist allmächtig und sehr gütig“
eine Verhöhnung aller Leidenden.
 

2. Möglichkeit der Reaktion:
Versuche, den Einwand für irrelevant zu erklären
oder gar für illegitim

Was Philosophen und Theologen alles zusammengetragen haben an Versuchen zu erklären, warum ein allmächtiger und gütiger GottTP seinen leidenden Geschöpfen so wenig helfen würde – viele Menschen finden es nicht überzeugend.

Darunter auch Christen. Teilweise stoßen die Erklärungsversuche sogar auf ein gewisses Unbehagen. „Manche halten eine Lösung
auch gar nicht für wünschenswert, weil sie mit einem gewissen Recht fürchten, dass sie auf eine Legitimierung des Leidens hinausliefe“,
ist zu lesen bei Peter Knauer SJ in seinem Aufsatz
Eine andere Antwort auf das »Theodizeeproblem« –
was der Glaube für den Umgang mit dem Leid ausmacht
  Disclaimer.

Kein Wunder, dass Alfred Buß, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, gemeint hat:
„Ehrliche Theologie gesteht ein, dass es auf die Frage nach dem Sinn des Leidens keine Antwort gibt. Wer sie trotzdem versucht, setzt nur Irrlichter auf.“
      (gefunden unter http://www.idea.de/cfml/index.cfm Disclaimer,
      Link nicht mehr aktiv).

So sehen es heute nicht wenige Christen.
Jedoch nicht alle ziehen daraus Konsequenzen für ihren Glauben.
Einige glauben weiterhin an einen allmächtigen und gütigen GottTP.

Einige verweisen darauf, sie hätten Wichtigeres zu tun,
als über das Theodizee-Problem nachzudenken.
Einige erklären sich für unzuständig: Das sei ihnen „zu hoch“,
oder sie hätten „unbedingtes und restloses Vertrauen“ zu Gott.
Einige erheben gar den Vorwurf, die Theodizee-Frage sei „anmaßend“.

Gründe genug, sich über das Theodizee-Problem hinwegzusetzen?

Vielleicht für jemanden, für den sein Glaube nicht viel mehr ist
als ein Für-wahr-Halten bestimmter Glaubenssätze. Für den sich ohne diesen Glauben kaum etwas ändern würde. In diesem Fall
würde es kaum einen Unterschied machen, ob das Theodizee-Problem diesen Glauben ad absurdum führt oder nicht. Dann wäre verständlich, wenn ein Mensch das zu den weniger wichtigen Dingen zählt und meint, darum brauche er sich nicht unbedingt zu kümmern.

Es gibt jedoch Gläubige, für die das ganz anders aussieht. Der Glaube an einen allmächtigen und gütigen GottTP hat maßgebliche Bedeutung für ihr ganzes Leben.

Für diesen Glauben ist die Theodizee-Frage von größter Relevanz: Ist sie doch die Frage, ob das, was da geglaubt wird, überhaupt stimmen kann. Und wenn nicht, dann hätte der Gläubige allen Grund, seinen Glauben zu überdenken.

Angesichts der Bedeutung, die der Glaube an einen allmächtigen und gütigen GottTP für einige Gläubige hat, darf man sich darüber wundern, wie viele meinen, sie könnten die Theodizee-Frage ignorieren. Sie könnten eine Frage ignorieren, die erhebliche Konsequenzen für ihren Glauben haben könnte.

Ein Glaube, für den, von einer gewissen geistig-seelischen Reife an, jeder Mensch selbst verantwortlich ist. Auch dann, wenn er mit Begründungen wie „mir zu hoch“ oder „ich vertraue ...“ auf eigene kritische Überlegungen verzichtet und bei dem bleibt, was er nun einmal glaubt. Also in aller Regel großenteils bei dem, was er von klein auf gelehrt wurde.

Angesichts der Bedeutung, die einige Gläubige ihrem Glauben zuschreiben, darf man sich darüber wundern, wie bereitwillig viele von ihnen die Entscheidung darüber dem Zufall überlassen, der sie in einer bestimmten Umgebung zur Welt kommen ließ
und zuerst mit bestimmten Vorstellungen in Berührung kommen ließ.
 

Was den Vorwurf der „Anmaßung“ angeht –
kann man ein solches Denkverbot akzeptieren?
Darf man es akzeptieren?

Wenn es um Wichtiges geht – ist man es dann nicht sich selber schuldig, nach einer sorgsam durchdachten Entscheidung zu suchen?
Ist man das nicht manchmal auch anderen Menschen schuldig?
Zum Beispiel, wenn man Kinder hat oder haben will
und die Entscheidung zu fällen hat,
welche Überzeugungen man ihnen von klein auf nahebringen will?
Könnte man es verantworten,
auf eine durchdachte Entscheidung zu verzichten?

 

3. Möglichkeit der Reaktion:
Die Einsicht, dass der Einwand völlig berechtigt ist
und dass die Lehre vom allmächtigen und gütigen GottTP
damit widerlegt ist

Damit ist das Theodizee-Problem gelöst.

Mehr noch:
Damit ist eine Lösung für das Theodizee-Problem gefunden,
von der man überzeugt sein darf, dass sie den Tatsachen entspricht.

Weil man einen triftigen Grund hat für die Überzeugung,
dass das Gegenteil nicht sein kann:
Denn ein allmächtiger und gütiger GottTP
hätte mehr Menschen vor Leiden bewahrt.
 

Auf Feststellungen dieser Art reagieren einige Gläubige mit persönlichen Vorwürfen.

Dr. Nadeem Elyas vom Zentralrat der Muslime nennt es „naiv und dumm“, im Glauben eine „Garantie gegen Armut, Seuchen, Naturkatastrophen, Krieg und Vernichtung auf Erden“ zu sehen.
      (Saar-Echo vom 3.12.2005)

Dabei ist eine weitgehende Garantie gegen all das
eine logische Konsequenz aus den Dogmen
von der Allmacht und der Allgüte Gottes.
An diese Garantie zu glauben, das mag man „naiv und dumm“ nennen.
Es ist jedoch nicht naiver und nicht dümmer,
als an die Allmacht und Güte Gottes zu glauben.
 

Einen anderen Vorwurf bekam ich gelegentlich in Diskussionen mit Gläubigen zu hören:
„Du machst es dir leicht!“

Das könnte ein berechtigter Vorwurf sein,
wenn ich es mir zu leicht gemacht hätte.
Wenn ich etwas Wichtiges zu wenig beachtet hätte.

Das ist jedoch, soweit ich sehe, nicht der Fall.
Ich sehe keinen Grund,
mich durch einen solchen Vorwurf getroffen zu fühlen.

Aus meiner Sicht sind es eher diese Gläubigen,
die etwas Wichtiges zu wenig beachten:
das Theodizee-Problem,
einen schwerwiegenden Einwand
gegen die Lehre vom allmächtigen und gütigen GottTP.

Dass diese Gläubigen es manchmal schwer haben damit,
dass es diesen Einwand gibt
und kein überzeugendes Argument dagegen,
das mag sein.

Na und?
Es ist kein Verdienst, sich das Leben schwer zu machen.
Wenn das völlig unnötig ist,
wenn es nicht zu einem besseren Ergebnis führt,
dann ist das nur unvernünftig.

Es ist auch kein Verdienst, an einem Glauben festzuhalten,
wenn die Argumente dagegen stichhaltiger sind
als die Argumente dafür.

Schon gar nicht, wenn es gegen diesen Glauben
ein so stichhaltiges Argument gibt wie das Theodizee-Problem –
während die Suche nach Gegenargumenten von vergleichbarer Qualität
kläglich gescheitert ist.

Es ist kein Verdienst,
sich der Überzeugungskraft von Argumenten zu verschließen.
 

Meiner Entscheidung
gegen den Glauben an einen allmächtigen und gütigen GottTP
brauche ich mich nicht zu schämen.
Ich bin überzeugt, dass ich diese Entscheidung
mit guten Gründen für richtig halten kann.
 

Braunschweig, den 24. März 2010

Irene Nickel

_________________________________________________________

 

1, 2 GottTP“ (wie „GottTheodizee-Problem“)
wurde im 1. Teil definiert als Abkürzung für den Gott,
um den es beim Theodizee-Problem geht,
dem – wie in den Prämissen 2–6 und Schlussfolgerung 1 beschrieben –
Allmacht und Güte zugeschrieben werden,
und dazu Kenntnisse, Intelligenz und Rationalität.
 

3 „Ich bin Gott, der Allmächtige“,
mit diesen Worten spricht beispielsweise der Gott der Bibel
den Abram an, der bald darauf in „Abraham“ umbenannt wird.
      (Genesis = 1. Mose 17, 1)
 

4 Nach Angaben der gleichen Quelle schreibt C. S. Lewis dazu:
„.. Es bleibt wahr dass alle Dinge bei Gott möglich sind;
das innerlich Unmögliche aber ist nicht ein Ding, sondern ein Nichts.“
 

5 Die erkenntnistheoretische Situation habe ich im Text nur grob skizziert.
Nach Auffassung des Kritischen Rationalismus – die ich teile –
ist jede Aussage in den empirischen Wissenschaften
streng genommen nur eine Hypothese.
Zur Klarstellung:
Das schließt feste Überzeugungen keineswegs aus.
So nennt es Hans Albert eine „seltsame Vorstellung“,
„man könne nur dann eine feste Überzeugung haben,
wenn man nicht bereit sei, die betreffenden Auffassungen
kritischer Prüfung auszusetzen.“
      (Traktat über kritische Vernunft, S. 225)
 

6 Ich denke daran, wie man die Gesetze der Klassischen Mechanik
lange Zeit und aufgrund von unzähligen Beobachtungen
für ausnahmslos gültige „Naturgesetze“ gehalten hat –
und wie man dann feststellen musste,
dass es doch Ausnahmen gibt:
bei sehr hohen Geschwindigkeiten
(da liefert die Relativitätstheorie bessere Beschreibungen)
sowie bei sehr kleinen Größen
(da liefert die Quantenmechanik bessere Beschreibungen).
 

7 Peter Knauer SJ hingegen sieht in seinem Begriff von Allmacht
keinen eingeschränkten Begriff.
Er hat sogar geschrieben:
„Wenn ich in Bezug auf Gott sage, er sei ‚mächtig in allem‘,
ist dies keineswegs eine ‚eingeschränkte‘ Form von Allmacht, sondern unüberbietbar. Das übliche Verständnis von einer bloß ‚potentiellen‘ Allmacht (Gott könnte alles Mögliche, aber man weiß nie ob er es will) im Unterschied zu einer aktualen Allmacht scheint mir auf eine Einschränkung hinauszulaufen.“
      (aus einer E-Mail-Korrespondenz,
       zitiert mit freundlicher Genehmigung von Peter Knauer SJ

 

8 Falls jemand sich wundert, wieso ich meine,
ich könne mit einem abgeschwächten Begriff von Güte zum Ziel kommen –
während ich doch zuvor kritisch angemerkt habe,
dass Theodizee-Versuche mit abgeschwächten Begriffen
von Allmacht oder Güte nicht zum Ziel führten –
hier meine Erklärung:

Es macht einen Unterschied,
ob man die Existenz einer Lösung zeigen will
oder deren Nicht-Existenz.

Eine Lösung für starke Begriffe
wäre immer auch eine Lösung für schwächere Begriffe –
nicht aber umgekehrt.

Das bedeutet für diejenigen,
die zeigen wollen, dass das Theodizee-Problem lösbar sei:
Eine Lösung, die sie für schwächere Begriffe präsentieren,
ist nicht immer
auch eine Lösung für die starken Begriffe;
also genügt das nicht,
um die Existenz einer Lösung für die starken Begriffe zu zeigen.

Für diejenigen,
die zeigen wollen, dass das Theodizee-Problem nicht lösbar sei,
genügt es hingegen durchaus,
zu zeigen, dass es für bestimmte schwächere Begriffe keine Lösung gibt.
Denn in diesem Fall kann es für stärkere Begriffe
auch keine Lösung geben;
schließlich wäre jede Lösung für die starken Begriffe
immer auch eine Lösung für die schwächeren Begriffe.
 

9, 11 gefunden unter
http://www.philo-forum.de/philoforum/viewtopic.php?p=42781#42781 Disclaimer,
Link nicht mehr aktiv
 

10 Ein weiterer Aspekt des Helfersyndroms ist ein schwaches Selbstwertgefühl, für das im Helfen Kompensation gesucht wird:
durch das Gefühl der Bedeutung, die der Helfende für den Hilfsbedürftigen hat oder zu haben meint,
und teilweise auch durch das Gefühl der Überlegenheit.
Hinzu kommt nicht selten die Unfähigkeit,
den Grenzen der eigenen Belastbarkeit Rechnung zu tragen,
was zum Burn-out-Syndrom führen kann.

Beschrieben wurde das Helfersyndrom von Wolfgang Schmidbauer
u. a. in seinem Buch Hilflose Helfer.

 

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URL: http://irenenickelreligionskritik.beepworld.de/theodizee3.htm


   

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