Geschrieben 1998 für ein Briefforum

Irene Nickel

Ich war evangelisch-lutherische Christin ...

„Allmächtiger Gott, barmherziger Vater,
ich armer, elender, sündiger Mensch
bekenne dir alle meine Sünde und Missetat,
die ich begangen mit Gedanken, Worten und Werken,
womit ich dich jemals erzürnet
und deine Strafe zeitlich und ewiglich verdienet habe.
Sie sind mir aber alle herzlich leid und reuen mich sehr,
und ich bitte dich durch deine grundlose Barmherzigkeit
und um des unschuldigen, bitteren Leidens und Sterbens
deines lieben Sohnes Jesu Christi willen,
du wollest mir armen sündhaften Menschen
gnädig und barmherzig sein,
mir alle meine Sünden vergeben
und zu meiner Besserung deines Geistes Kraft verleihen.
Amen.”

Dieser Text entstammt
nicht etwa einer Sekte oder einem obskuren fundamentali­stischen Zirkel.

Er steht unter dem Titel „Die Allgemeine Beichte”
im „Evangelischen Kirchengesangbuch,
Ausgabe für die evangelisch-lutherischen Kirchen Niedersachsens, 1967”

Es ist der Text, der bei jedem Abendmahlsgottesdienst
meiner evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde gesprochen wurde.
Ein Text, den alle Mitglieder der Gemeinde
in Gedanken mitsprechen sollten.
Und ich, ein junges Mädchen von 14 bis höchstens 18 Jahren,
habe es mitgesprochen.

Nicht nur dahergesagt.
Ich habe mir den Inhalt zu eigen gemacht, und es war mir sehr ernst damit.

Wenn ich daran denke, steigt heute noch die Wut in mir hoch.
Wie konnte ich nur, auf so unbarmherzige Weise,
mich selbst demütigen und mich selbst beschimpfen?!

Diese Worte waren Gift für mein Selbstbewusstsein.
Sie sagten mir, ich sei ein elender Versager.
Ich entwickelte Minderwertigkeitsgefühle. Ich entwickelte Schuldgefühle.

Ich weiß, nicht allen in der Gemeinde ging es so wie mir.
An vielen perlten solche Worte ab.
Manche waren wohl von Natur aus unempfänglich für große Worte;
sie gingen einfach davon aus,
dass nichts so heiß gegessen würde wie gekocht.
Manche wussten aus Erfahrung:
Niemand ist vollkommen, aber das wird auch von niemandem erwartet.
über ihre alltäglichen Fehler machten sie sich keine allzu großen Sorgen.

Niemand behandelte sie deswegen wie den letzten Dreck,
und so sie fühlten sich nicht wie der letzte Dreck.
Sie wurden dennoch akzeptiert, anerkannt und geliebt.
Die demütigen und demütigenden Worte aus der Allgemeinen Beichte
waren nicht die Wirklichkeit ihres Lebens.
Sie wussten im Grunde ihres Herzens,
dass sie diese Worte nicht allzu ernst zu nehmen brauchten.

Ich wusste das nicht.
Meine Lebenswirklichkeit enthielt kein Kontrastprogramm,
das stark genug gewesen wäre,
mich vor der Wucht dieser Worte zu schützen.
Ich habe alle diese Worte ernst genommen und darunter gelitten.

Mal um Mal machte ich die Erfahrung, dass aus „meiner Besserung”,
die ich mir beim letzten Mal so dringend herbeigewünscht hatte
und zu der ich sogar die „Kraft des Geistes (Gottes)” erfleht hatte,
nichts geworden war.
Die gleichen „Sünden”, die mir beim letzten Mal „alle herzlich leid” waren
und „mich sehr reuten”, hatte ich wieder begangen.

Hätte ich vernünftig darüber nachgedacht,
dann hätte mir spätestens beim dritten Mal auffallen müssen,
dass die „Besserung”, die ich mit so viel Pathos herbeiflehte,
gar nicht zu erwarten war.
Den guten Willen, den ich dazu aufbringen konnte,
hatte ich beim letzten Mal auch schon gehabt.
Ich konnte unmöglich noch mehr guten Willen aufbringen als das letzte Mal.
Alles Reden von „Besserung”,
das ich mir unter dem Einfluss des Gottesdienstes zu eigen machte,
musste leeres Gerede bleiben, dem keine Taten folgen würden.
Ich hätte es mir sparen können.

Aber damals konnte ich nicht vernünftig darüber nachdenken.
Ich hatte viel zu viel Angst, bei meinem Gott in Ungnade zu fallen.
Und so ließ ich mich immer wieder dazu verleiten, mir einzureden,
der Wunsch nach „meiner Besserung” wäre kein leeres Gerede,
sondern mein dringender Wunsch.
Ich ließ mich dazu verleiten, mir selbst etwas vorzumachen.

So war der Gottesdienst,
und ganz besonders der Gottesdienst am Buß- und Bettag,
für mich eine Schule des Selbstbetrugs.

Was nahm ich sonst noch aus dem Gottesdienst nach Hause?
Die Erfahrung, dass meine guten Vorsätze immer wieder scheiterten.
Jedes Scheitern war entmutigend.
Jedes Scheitern minderte mein Zutrauen zu mir selbst.

Damals merkte ich noch nicht, wie lieblos eine Religion ist,
die ihre Gläubigen immer wieder
einem so deprimierenden Erlebnis aussetzt.

Damals merkte ich noch nicht, wie töricht eine Religion ist,
die ihre Gläubigen immer wieder
einem so entmutigenden Erlebnis aussetzt.
Eine weise Religion hätte das Wissen enthalten,
dass der Mensch Mut braucht,
um sein Leben aktiv und nutzbringend zu gestalten.
Ermutigung, nicht Entmutigung,
hätte eine weise Religion mit sich gebracht.

Damals wurde mir auch noch nicht bewusst,
wie ungerecht die Worte aus der Allgemeinen Beichte waren.

Was hatte ich denn schon getan?
Ich hatte meinen Vater verärgert (ich hatte ihm widersprochen).
Ich war ungehorsam gewesen (ich hatte meine Pickel nicht in Ruhe gelassen).
Ich hatte mich nicht immer an das Gebot der Nächstenliebe gehalten
(ich hatte mich mit meinen Geschwistern gezankt).
Und dergleichen.

Wegen solcher Sachen sollte ich mich selbst
einen „armen, elenden, sündigen Menschen” schimpfen?
Deswegen sollte ich Zorn und Strafe verdienen, gar „Strafe ewiglich”?
Wo bleibt da die Verhältnismäßigkeit?

Habe ich von dieser Ungerechtigkeit rein gar nichts gemerkt?
Ich versuche, mich zu erinnern.
Doch, ein wenig Verwunderung war da wohl,
vielleicht sogar ab und zu eine leise Ahnung,
dass da irgend etwas nicht ganz passte.

Mehr aber durfte nicht in mein Bewusstsein dringen.
Die Worte der Allgemeinen Beichte waren für mich
nicht irgendwelche Menschenworte,
sondern Worte, hinter denen der Wille Gottes stand.
Dass Gott,
der allmächtige und gerechte Gott, der alle meine Gedanken kannte,
dass dieser Gott mir Unrecht tat –
das hätte ich nicht einmal zu denken gewagt.

So konnte das Empfinden, dass irgend etwas nicht ganz passte,
nicht in Auflehnung münden.
Es wurde beiseite geschoben mit der Begründung,
der allwissende Gott wisse es gewiss besser als ich unwissender Mensch;
und wenn ich den Eindruck hätte, dass etwas nicht passte,
dann musste ich eben einen falschen Eindruck haben.

Mein Wissen, dass ich ungerecht behandelt wurde,
blieb aus meinem Bewusstsein verbannt.
Und meine Wut darüber, dass ich ungerecht behandelt wurde,
blieb aus meinem Bewusstsein verbannt.

Wenn ich von dieser Wut spreche,
dann ist das keine kühle, nüchterne Analyse,
oder gar ein nachträgliches Hineininterpretieren
mit Hilfe von amateurpsychologischem Bücherwissen.
Ich spüre diese Wut jetzt in diesem Augenblick, da ich dies schreibe,
ganz körperlich:
wie es kribbelt im Leibe,
wie sich Muskeln zusammenziehen,
wie mein Puls und Atem schneller gehen.

Es erstaunt mich heute noch, wie es mir damals möglich war,
ein solches Maß an Wut jahrelang so tief zu verdrängen,
dass ich selbst daran glaubte, ich empfände sie nicht.
Es müssen starke seelische Kräfte am Werke gewesen sein,
ein äußerst dringender Wunsch, ja nicht durch „sündige” Gedanken und Gefühle meine Beziehung zu meinem Gott zu stören,
meinem einzigen Gegenüber,
zu dem ich vertrauensvoll sprechen zu können glaubte,
da ich doch zu keinem Menschen offen und vertrauensvoll sprechen konnte.

Ich verdrängte die Wut über ganz konkrete Forderungen.
Da sollte ich mich an das 4. Gebot halten,

„Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren...”,
und das hieß,
wie ich nach dem „Kleinen Katechismus Doktor Martin Luthers” lernte:

„... dass wir unsere Eltern und Herren nicht ... erzürnen,
... ihnen ... gehorchen.”

Es war hart, durch ein solches Gebot
der Willkür eines Vaters ausgeliefert zu sein, wie ich einen hatte,
eines Egozentrikers mit dem Einfühlungsvermögen einer Abrissbirne.

Das Problem war nicht, dass mein Vater
seine Aufgabe als Vater vernachlässigt hätte.
Tatsache ist, dass er sich viel Mühe gab, ein guter Vater zu sein.
Hätte man ihn gefragt, ob er sich Zeit für Gespräche mit mir nehme,
dann hätte er die Wahrheit gesagt, wenn er geantwortet hätte:
„Ja, viel Zeit.”

Das Problem war die Art, in der diese Gespräche verliefen.
Er wollte von mir gar nicht hören, was ich dachte,
er wollte von mir hören, was er dachte
.
Wozu brauchte ich eine eigene Meinung,
war seine denn nicht gut genug für mich?!
Einmal hat er mir ganz im Ernst vorgeworfen, ich hielte ihn für blöd,
weil ich mich nicht seiner Meinung angeschlossen hatte.
Widersprach ich, war er regelmäßig stinksauer,
und der Haussegen hing schief.

Und ich unerfahrenes Gör
machte mir bei so mancher Beichte heftige Vorwürfe,
weil ich wieder einmal meinen Vater „erzürnt” hatte!

Ich machte mir nicht klar, dass es überhaupt kein Fehler ist,
wenn ein junges Mädchen seinem Vater öfter mal widerspricht,
sondern ein Zeichen von seelischer Gesundheit.

Ich machte mir auch nicht klar, wie lieblos eine religiöse Lehre ist,
die sich nicht auf die Seite der Schwachen, der Kinder, stellte,
sondern blind Partei nahm für die Eltern,
die ohnehin mächtigeren, im Besitz der „elterlichen Gewalt” befindlichen
(so hieß das damals noch in § 1626 BGB, noch Stand 1. März 1978).
Eine religiöse Lehre, die, statt die Unterdrückten zu schützen,
noch gegen sie Partei nahm und sich auf die Seite der Unterdrücker stellte.

Es gab bessere Normensysteme. Zum Beispiel die Menschenrechte.
Die hatte ich durchaus in der Schule kennen gelernt.
Ich wusste, dass ich ein Menschenrecht auf Meinungsfreiheit hatte.
Ich wusste, dass mein Vater mir Unrecht tat,
indem er mir die freie Meinungsäußerung verwehrte.
Und doch wagte ich nicht,
weiterzudenken und den naheliegenden Schluss zu ziehen,
dass eine religiöse Lehre, die dies Unrecht unterstützte,
mir Unrecht tat.

So wenig ich in der Lage war,
bestimmte konkrete Forderungen zurückzuweisen,
so wenig war ich auch in der Lage,
die Maßlosigkeit der Forderungen insgesamt zurückzuweisen.

Ich war wehrlos, wenn von mir gefordert wurde:
„Darum sollt ihr vollkommen sein,
gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.”

(Matthäus 5, 48).

Damals war ich noch nicht imstande zu sagen:
„Welch ein Quatsch! Kein Mensch kann vollkommen sein!
Es ist doch allgemein bekannt, dass das nicht geht!
Einen Menschen, der solche Forderungen aufstellt,
kann ich doch nicht ernst nehmen!
Ob es nun der Herr Pfarrer ist oder Jesus von Nazareth persönlich,
der solche Forderungen aufstellt
(wie der Autor des Matthäusevangeliums behauptet).”

Warum konnte ich diese unsinnigen Forderungen nicht zurückweisen?

Merkte ich nicht, wie unsinnig sie waren,
weil ich zu wenig über das Leben wusste?
Oder fehlte mir der Mut, die Forderungen in Frage zu stellen,
weil ich noch fest in der Hand jenes Glaubens war,
dass Jesus Gottes Sohn sei und Gottes Willen verkündete?

Lag es am Mangel an Lebenserfahrung,
dass ich nicht merkte, dass Jesus ganz bestimmt nicht
den Willen eines weisen und menschenfreundlichen Gottes verkündete?
Oder lag es an dem religiös bedingten übermäßigen Respekt vor Jesus
und seiner Gefolgschaft, dass mir bestimmte Aspekte des Lebens einfach entgingen?
Da gab es wohl einen Teufelskreis
von Bindung an eine törichte religiöse Lehre
und mangelhafter Wahrnehmung der Wirklichkeit.

Denkt vielleicht jetzt jemand:
„Die Irene hatte aber ein ausgefallenes Leiden!
Es haben doch so viele den gleichen Religionsunterricht
und die gleiche Kirche besucht, und es ist ihnen nicht so ergangen.
Liegt’s vielleicht gar nicht an der Lehre?
Liegt’s vielleicht nur daran, dass Irene nicht richtig damit umgehen konnte?
Liegt’s also an Irene?” ?

Ja, es lag wohl an Irene,
dass sie sich nicht so gut vor Schaden durch diese Lehre schützen konnte
wie viele andere Menschen.

Andere Menschen verfügten über eine glücklichere Mentalität,
sie haben die schlimmsten Aspekte dieser Lehre
nicht geglaubt
oder einfach nur nicht ernst genommen.

Vielleicht hat es sein Gutes, dass viele Menschen so sind.
Es bewahrt sie vor Leiden.

Aber es ist nicht das Verdienst einer Lehre,
wenn sie einem Menschen nur deshalb nicht schadet,
weil sie nicht geglaubt oder nicht ernst genommen wird.

Es ist nicht einmal eine passable Entschuldigung,
dass die wenigsten Menschen so ernsthaft und so vertrauensvoll,
so unerfahren und so wehrlos, so seelisch bedürftig und so empfindlich sind
wie die junge Irene.

Ich messe eine Lehre daran, wie sie auf Menschen wirkt,
die an sie glauben und sie ernst nehmen.

Braunschweig, den 17. Mai 1998

Irene Nickel
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Seit ich dies im Jahre 1998 schrieb, sind 7 Jahre vergangen.
Ich hatte Zeit, all das seelisch zu verarbeiten,
und die Erinnerung weckt nicht mehr ganz so heftige Gefühle.

Zur Sache habe ich zu ergänzen:

Damals sah ich die Ursache meiner religiös bedingten Probleme
in der evangelisch-lutherischen Kirche,
der ich angehörte
und deren Einfluss ich in
Religions­unterricht und Gottesdienst ausgesetzt war.

Die Hauptursache sehe ich immer noch dort,
aber inzwischen ist mir klar geworden,
dass eine weitere Kirche
erheblich zu meinen Problemen beigetragen haben dürfte:
die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (Baptisten),
deren Gottesdienste ich in den letzten Jahren meiner Zeit als Christin
oft besucht habe.

Dort dürfte ich eine Lehre vorgefunden und übernommen haben,
die ich im Jahre 2001
auf den Internet-Seiten der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde
gefunden habe:

Der Widerspruch gegen Gottes Herrschaft geschieht nicht nur
in Worten und Taten, die moralisch verwerflich sind.
Er kann sich ebenso in aufopferndem Eintreten für Freiheit,
Frieden und Gerechtigkeit, für Religion, Wahrheit und Schönheit verwirklichen.
Jede gute Tat kann gleichzeitig Gott gegenüber
die feinste Form der Selbstrechtfertigung und der Selbstsucht sein.
Im Licht der Liebe Gottes wird das Geheimnis der Bosheit
auch und gerade in den „guten” und „frommen” Taten der Menschen
aufgedeckt, so dass niemand vor Gott im Recht ist
und ohne Gnade bestehen kann.

(Inzwischen – Stand 17.7.2010 – zu finden unter
Die Rechenschaft vom Glauben Disclaimer
auf einer Seite der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde
auf den Fildern.)

Das ist eine Lehre, die dem Menschen nicht die geringste Chance lässt,
mit seinem Verhalten zufrieden zu sein.
Wie er es auch macht,
er sieht sich dem Vorwurf der Bosheit ausgesetzt, der „Sünde”.
Es ist eine perfide Lehre,
die Menschen um ihr Selbstbewusstsein bringen kann
und um ihre Lebensfreude.
Es ist eine menschenfeindliche Lehre,
die bei Menschen, die darauf hören, viel Schaden anrichten kann.

Braunschweig, den 9. Juli 2005

Irene Nickel

 

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