Irene Nickel

Gedankensplitter –
Religion aus ungewohnten Blickwinkeln

Bonifatius – und die Taliban

Marienerscheinungen

„Der Mensch weiß, was gut und böse ist“, sprach Gott

Jesus – ein Griff in die Trickkiste der „Wunderheiler“

Jesus, Anführer einer Sekte

Jesus eilte nicht zu Lazarus

 
Bonifatius – und die Taliban

Leserbrief zu
„Taliban ordnen Zerstörung aller Statuen im Land an“,
Frankfurter Rundschau vom 28.2.2001,
veröffentlicht am 13.3.2001  (vollständig)

Es wäre sehr zu bedauern, wenn tatsächlich alle Buddha-Statuen in Afghanistan auf Anordnung der Taliban zerstört würden. Bevor wir jedoch zu heftig werden in unserer Kritik, sollten wir uns einmal fragen, wie wir auf solche Taten reagieren, wenn der Verantwortliche kein Mullah der Taliban ist, sondern ein christlicher Missionar.

Wie stellen wir uns beispielsweise dazu, dass ein gewisser Winfried oder Bonifatius im Jahre 724 eine dem germanischen Gott Donar geweihte Eiche bei Geismar fällte? Wo bleibt die Empörung über die Rücksichtslosigkeit, mit der etwas zerstört wurde, was anderen Menschen heilig war? Wo bleibt die Empörung über die Missachtung der religiösen Gefühle von andersgläubigen Menschen?

Die wenigsten Deutschen scheinen sich daran zu stören. Im Gegenteil, sie feiern diesen Bonifatius auch noch als Heiligen (5.6.) und als „Apostel der Deutschen“. Fulda, dessen Dom das Grab des Bonifatius beherbergt, wird alljährlich zum Ort einer Vollversammlung der katholischen Deutschen Bischofskonferenz. Auch in der evangelischen Kirche scheint man dem Zerstörungswerk des Bonifatius positive Seiten abzugewinnen. Auf ihren Internet-Seiten heißt es dazu: „Damit beweist er die Ohnmacht des Naturgottes Donar. Der christliche Gott erscheint als ein übernatürlicher Herr, der auch die Menschen aus ihrer unbedingten Abhängigkeit von der Natur befreit.“

Solange die Zerstörung von Heiligtümern andersgläubiger Menschen noch so viel unverhohlene Bewunderung in Deutschland findet, müssen wir uns fragen: Was haben wir – in dieser Hinsicht – denn den Taliban voraus?

Anmerkung dazu:

Christliche Religion macht’s möglich:
Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind,
bewundern eine Tat, die nach dem geltenden Recht ihres Landes eine Straftat wäre:

StGB § 167 Absatz 1 Punkt 1: Störung der Religionsausübung

(1) Wer

1. den Gottesdienst oder eine gottesdienstliche Handlung einer im Inland bestehenden Kirche oder anderen Religionsgesellschaft absichtlich und in grober Weise stört oder

2. an einem Ort, der dem Gottesdienst einer solchen Religionsgesellschaft gewidmet ist, beschimpfenden Unfug verübt,

wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

 
Marienerscheinungen

Leserbrief zu
„Jesus kam nicht bis nach Marpingen“, Frankfurter Rundschau vom 23.8.1999,
veröffentlicht am 10.9.1999 (wie hier zu lesen)

„Absurdistan“ nennt es Katharina Sperber, wenn Menschen an Marienerscheinungen im Härtelwald glauben und dorthin pilgern. Die Frage ist nur: Ist es etwa weniger absurd, wenn Menschen an Erscheinungen des „auferstandenen“ Jesus vor knapp 2000 Jahren in Israel glauben? Ist es weniger absurd, wenn sie deswegen teure Kirchen bauen und Sonntag für Sonntag dorthin pilgern? Wenn sie um ihren Glauben Kriege angezettelt und viel unschuldiges Blut vergossen haben? Was ist an den etablierten kirchlichen Kulten weniger absurd (abgesehen von der Klärung der Toilettenfrage)?

Anmerkung: Die ironische Spitze in Klammern bezieht sich darauf, dass es nach Angaben der Frankfurter Rundschau zu Problemen kam, weil für die vielen Pilger nicht genug öffentliche Toiletten zur Verfügung standen.

  
„Der Mensch weiß, was gut und böse ist“, sprach Gott

„Und Gott der HERR sprach:
Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner
und weiß, was gut und böse ist.
Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand
und breche auch von dem Baum des Lebens
und esse und lebe ewiglich!“
      (Genesis = 1. Mose 3,22)

Liest man christliche Kommentare zu dieser Bibelstelle,
dann könnte man oft meinen, da stünde:
„Der Mensch bildet sich ein, er wüsste, was gut und böse ist.“

Obgleich da steht, dass Gott etwas anderes sagte:
„Der Mensch weiß es.“

Diesem Satz könnte man emanzipatorisches Potential abgewinnen.
Man könnte ihn als Ermutigung lesen,
sich in Fragen von Gut oder Böse ein eigenes Urteil zu bilden
und sich der Verantwortung zu stellen,
die damit einhergeht.

Dieser Verantwortung können wir uns nicht dadurch entziehen,
dass wir die Urteile irgendeiner Autorität unbesehen übernehmen.
Denn auch dann, wenn wir uns dafür entscheiden,
irgendeiner Autorität blind zu folgen,
sind wir für diese Entscheidung verantwortlich.

Gewiss, der Mensch weiß nicht alles,
auch nicht über Gut und Böse.
Und ein einzelner Mensch wird manchmal nichts Klügeres tun können,
als sich am Urteil von anderen Menschen zu orientieren,
wenn diese vielleicht mehr Sachkenntnis haben
oder mehr Erfahrung als er selbst.

Darüber hinaus wird es Fälle geben,
in denen ein Mensch auch nach gründlichem Nachdenken nicht sicher ist, wie er urteilen soll.
Und es wird Fälle geben, in denen er sich irrt.

All das ist aber kein Grund zu der Schlussfolgerung,
dass wir es uns sparen könnten,
uns ein eigenes Urteil zu bilden, so gut wir es verstehen.
Denn es heißt ja nicht,
dass wir keine Möglichkeit hätten,
vermeidbare Fehler zu vermeiden.

Man könnte den Satz in der Bibel als Bestätigung lesen,
dass wir diese Möglichkeit haben,
und als Ermutigung,
Gebrauch davon zu machen.

 
Christliche Kommentatoren jedoch richten ihren Blick
oft lieber auf den zweiten Satz der zitierten Bibelstelle.
Daraus, und aus dem Zusammenhang, geht hervor,
dass die begonnene Entwicklung des Menschen
dem Willen des Gottes der Bibel zuwiderläuft.
Der Theologe Joachim Ringleben formuliert:

„Das Begehren, ‚zu sein wie Gott’ (...),
ist Inbegriff der Sünde schlechthin.“
      (Jesus: Ein Versuch zu begreifen, Fußnote 151 auf Seite 58)

So kann man es sehen.
Ein Mensch, der sich sein eigenes Urteil bildet,
kann in Konflikt geraten
mit dem Willen des Gottes der Bibel.

Manchmal steht der Mensch vor der Wahl
zwischen dem, was er nach seinem besten Wissen als gut erkennt,
und dem Gott seiner anerzogenen Religion.

  
Jesus – ein Griff in die Trickkiste der „Wunderheiler“

Wahr sein könnte fast alles
an jener Geschichte von der „Heilung“ eines fallsüchtigen Jungen,
die im 9. Kapitel des Markus-Evangeliums erzählt wird –
fast alles,
bis auf die Heilung.

Als der Junge zu Jesus gebracht wird,
bekommt er prompt einen schweren Anfall.
Aber Jesus hat es nicht eilig damit,
dem Jungen zu helfen.
Erst einmal ergeht er sich in der Erörterung seiner Theorien
über den Zusammenhang von Glauben und Heilung.
Danach endlich gibt Jesus dem „Geist“ den Befehl,
den Jungen zu verlassen und nie zurückzukehren.
Der Junge zuckt noch einige Male heftig, schreit
und bleibt schließlich wie tot liegen.
Und dann kann Jesus ihn an der Hand nehmen
und ihm helfen, aufzustehen.

Die Frage ist: Warum hat Jesus das nicht früher getan?

Wie konnte er seelenruhig herumtheoretisieren,
während ein Junge
sich mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden wälzte
und sein Vater voller Sorge daneben stand?
Wäre es nicht dringender gewesen,
erst einmal den Jungen zu heilen
oder wenigstens den Anfall zu beenden?

Das wäre die Frage,
wenn Jesus wirklich die Fähigkeit gehabt hätte,
den Jungen zu heilen,
und das auch noch sofort.
Dann könnte man wütend werden über diesen Jesus.
Dann könnte man fragen, wo denn bei ihm die Nächstenliebe blieb,
die er doch als eines der höchsten Gebote zu preisen pflegte.

Das könnte man,
wenn Jesus wirklich diese Fähigkeit gehabt hätte.
Es gibt aber keinen Grund zu dieser Annahme.

Wenn wir hingegen davon ausgehen,
dass Jesus keineswegs die Fähigkeit hatte,
den Jungen sofort zu heilen,
dann wird die Geschichte nicht nur viel glaubhafter,
sondern auch viel verständlicher.

Es ist durchaus denkbar,
dass Jesus einiges über den Verlauf solcher Anfälle wusste.
Sodass er sich sagen konnte, dass es ihm unmöglich gewesen wäre,
sofort ein Ende des Anfalls herbeizuführen.
Dann könnte es sein,
dass Jesus mit seinem Palaver über Glauben und Heilung
vor allem ein Ziel verfolgte:
Zeit zu schinden,
bis der Junge so weit wäre,
dass Jesus das „Wunder“ vollbringen
und den Jungen, scheinbar geheilt, aufrichten könnte.

Es könnte sein,
dass Jesus sich nur eines der einfachsten Tricks bedient hat,
mit denen „Wunderheiler“ aller Zeiten ihr Publikum zu betrügen pflegen.

 
Jesus, Anführer einer Sekte

Mit dem Wort „Sekte“
verbindet sich der Gedanke an allerlei Unerfreuliches:

      Weitgehende Vereinnahmung der Mitglieder
in der gesamten Lebensführung

      Hohe finanzielle Forderungen,
teilweise nach Aufgabe des gesamten privaten Eigentums

       Abkapselung von Familienangehörigen, die nicht dazugehören

       Personenkult um den Sektenführer

Jesus mit seiner Anhängerschaft passt sehr gut in dieses Bild.

Der Personenkult, der sich um Jesus nach seinem Tode entwickelt hat,
sucht seinesgleichen:
Regelrecht zum Gott erhoben wurde er in der christlichen Religion.

Im Evangelium nach Markus ist es noch nicht so weit;
da wehrt Jesus noch ab, als er mit „guter Meister“ angeredet wird:
„Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.“ (Markus 10,18)
Aber auch in diesem Evangelium ist Jesus kein Erster unter Gleichen:
Jesus ist von Gott gesandt,   (Markus 9,37)
seine Jünger werden von Jesus ausgesandt.   (Markus 6,7-13)

Jesus pries die Abkapselung von Familienangehörigen,
die Trennung von ihnen, ja den Hass auf sie:

Und wer Häuser oder Brüder oder Schwestern
oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker
verlässt um meines Namens willen,
der wird's hundertfach empfangen und das ewige Leben ererben.“
      (Matthäus 19,29, Übersetzung nach Luther)

„Wenn jemand zu mir kommt
und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst,
der kann nicht mein Jünger sein.“
      (Lukas 14,26, Übersetzung nach Luther)

Diese Einstellung lebte Jesus vor:
Als er hörte, dass seine Mutter und seine Brüder
mit ihm sprechen wollten, erwiderte er:
        „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?“,
und, auf seine Jünger weisend:
        „Siehe da, das ist meine Mutter und meine Brüder!“
              (Matthäus 12,46-50)

Hohe finanzielle Forderungen stellte Jesus,
als ein reicher Jüngling zu ihm kam:

„Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast,
und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben;
und komm und folge mir nach!“   (Matthäus 19,21)

Zugleich wurde damit eine totale Ausrichtung der Lebensführung
auf den Anführer der Gruppe gefordert.

Alles in allem
scheint die Gruppe um Jesus
eine typische „Sekte“ gewesen zu sein,
eine „Sekte“ im unerfreulichen Sinne des Wortes.

 
Jesus eilte nicht zu Lazarus

Nein, er kam erst, als Lazarus bereits seit vier Tagen tot war.

Er hätte früher kommen können.
Als er erfuhr, dass Lazarus schwer erkrankt war,
blieb er noch zwei Tage lang da, wo er war.
Erst als er glaubte, dass Lazarus tot war, machte er sich auf den Weg.

So beginnt eine Geschichte im Evangelium nach Johannes, Kapitel 11.

Weiter lesen wir dort,
dass Jesus nicht etwa bedauert hat,
dass er nicht angekommen war, bevor Lazarus starb.
Im Gegenteil,
zu seinen Jüngern sagte Jesus:
„und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht da gewesen bin,
damit ihr glaubt.“   (Vers 15)

Also, obwohl Jesus angeblich den Lazarus lieb hatte
und auch seine Schwestern Marta und Maria   (Vers 5),
hatte dieser „Freund“ der Familie
in dieser Situation vor allem eines im Kopf:
was seine Jünger von ihm denken würden.

Dann aber, als Jesus angekommen war und sah,
wie Maria weinte und wie auch viele andere weinten,
„ergrimmte er im Geist und wurde sehr betrübt“;
ja, er begann so heftig zu weinen,
dass Umstehende sagten: „Siehe, wie hat er ihn lieb gehabt!“ (Vers 33‑36
)

Warum eigentlich wurde Jesus „sehr betrübt“,
wenn er doch glaubte, dass Gott ihn erhört hätte   (Vers 41-42)
und Lazarus auferstehen würde?
Musste er erst Tränen sehen, um zu begreifen,
was der Tod des Lazarus für seine Schwestern bedeutete?

Und warum „ergrimmte er im Geist“?
Über wen war er denn zornig?
Über sich selbst hätte er zornig sein können,
weil er Marta und Maria unnötig lange um ihren Bruder weinen ließ.

Aber mir scheint, als sähe das diesem Herrn nicht ähnlich.
Wie er sich schon darauf gefreut hatte,
da zu Missionszwecken eine eindrucksvolle Schau liefern zu können,
so scheint Mitgefühl mit trauernden Menschen
nicht zu seinen Prioritäten gehört zu haben.
Da liegt der Gedanke nahe,
dass Jesus über etwas ganz anderes
so „betrübt“ und „zornig“ gewesen sein könnte.
Worüber, darauf könnten Jesu Worte zu Marta einen Hinweis geben:
„Habe ich dir nicht gesagt:
Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?“   (Vers 40)
Dieser Unglaube könnte es gewesen sein,
über den Jesus so betrübt und sogar zornig war.

Sei dem, wie dem sei, es bleibt dabei, dass Jesus
für eine möglichst eindrucksvolle Schau in Kauf genommen hat,
dass Marta und Maria vier Tage lang trauern mussten,
zwei Tage länger als nötig.
Kein sympathischer Mensch, dieser Jesus.

Die Kritik könnte man noch weiter treiben,
wenn man Jesus beim Wort nimmt, wie er laut betet:
„Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast.
Ich wusste, dass du mich immer erhörst ...“   (Vers 41-42)

Warum, könnte man dann fragen, wollte Jesus nicht den Schwestern
den Kummer über den Tod des Bruders ganz ersparen?
Warum hat er dann nicht darum gebeten,
dass Lazarus gar nicht erst sterben sollte?
Gleich, als er von der Erkrankung des Lazarus erfuhr?
Es sieht nicht so aus, als wäre es dazu schon zu spät gewesen.
Davon, dass Lazarus tot sei,
sprach Jesus erst zwei Tage später.

Und dann erst brach er auf zum Zuhause des Lazarus –
als hätte er nur auf seinen Tod gewartet.


So viel zu der Geschichte,
wie sie im Evangelium nach Johannes erzählt wird.
Aber ist überhaupt etwas Wahres daran?

Nun, etwas Wahres lässt diese Geschichte auf jeden Fall erkennen.
Nämlich über die Mentalität des Urhebers dieser Geschichte:
Der fand offenbar nichts Falsches daran,
dass Jesus andere Menschen über den Tod ihres Bruders trauern ließ,
nur damit er eine möglichst eindrucksvolle Schau liefern könnte.
Und es zeigt etwas über die Mentalität der frühen Christen,
dass sie sich nicht empört von einem solchen Text abgewandt haben,
sondern ihn sogar in die Reihe ihrer Heiligen Schriften aufgenommen haben.

Aber die Geschichte selbst – ist da etwas Wahres daran?
Hat sie einen historischen Kern?
Das darf bezweifelt werden.
Schon deshalb, weil sie in der Bibel
nur im Evangelium nach Johannes vorkommt,
also in einem Evangelium, das nicht eben in dem Ruf steht,
eine sonderlich zuverlässige Quelle
für die Biographie des historischen Jesus zu sein.

Trotzdem fand ich es faszinierend,
wie leicht sich aus diesem phantastischen Wundermärlein
eine plausible Geschichte machen lässt,
wenn man einmal alles weglässt,
was damit zu tun hat, dass Jesus einen Toten auferwecken könnte.
Dann braucht man nur noch eine kleine Annahme hinzuzufügen,
und alles passt plötzlich erstaunlich gut zusammen.

Für diese kleine Annahme gehe ich davon aus,
dass Jesus das „Reich Gottes“ in nächster Zukunft erwartete.
Seinen Jüngern hat er prophezeit,
dass einige von ihnen nicht sterben würden, bis es so weit wäre. (Matthäus 16,28)
So würde es zu Jesus passen,
wenn er das nicht nur allgemein einigen seiner Jünger,
sondern auch konkret dem Lazarus prophezeit hätte.

Von derart konkreten Prophezeiungen Jesu
steht nichts in den Evangelien.
Das kann daran liegen,
dass es solche Prophezeiungen nicht gegeben hat,
oder es kann daran liegen,
dass Christen zur Entstehungszeit der Evangelien,
etwa im letzten Drittel des ersten Jahrhunderts,
nicht mehr so gern darüber gesprochen haben.

So ist die Annahme einer derart konkreten Prophezeiung Jesu
zwar nicht unplausibel,
aber doch pure Spekulation.

Und mag es auch faszinierend sein,
wie gut unter dieser Voraussetzung alles zusammenpasst,
so ist die folgende Version der Geschichte von Jesus und Lazarus
dennoch pure Spekulation.

Jesus erhielt also die Nachricht, dass Lazarus schwer erkrankt war.
Aber wenn Jesus prophezeit hatte,
dass Lazarus den Anbruch des Reiches Gottes erleben würde,
dann glaubte er das sicher auch;
und dann wird verständlich, dass Jesus sagte:
„Diese Krankheit ist nicht zum Tode“.
Und es wird verständlich,
dass Jesus noch zwei Tage lang blieb, wo er war:
er glaubte nicht, dass das Krankenbett ein Sterbebett wäre,
und hielt es nicht für nötig, dorthin zu eilen.

Zwei Tage später aber sprach Jesus plötzlich davon,
dass Lazarus tot sei.
Wie kam er darauf? Durch eine himmlische Offenbarung?
Viel näher liegt die Vermutung, dass es Menschen waren,
von denen Jesus die Todesnachricht erhielt.

Dann allerdings konnte eine solche Nachricht
Jesus in einen erheblichen Widerstreit
der Gedanken und Gefühle stürzen.
Entweder musste er bezweifeln,
dass die Überbringer der Nachricht die Wahrheit sagten;
aber warum sollten sie lügen?
Oder er musste bezweifeln,
dass es wirklich Offenbarungen Gottes waren,
an die er so fest geglaubt hatte
und deren Verkündigung er zu seinem Lebensinhalt gemacht hatte.
Ein Dilemma, das ihm zusetzen konnte.

Dann wird verständlich, dass Jesus es nun wissen wollte.
Dass er sich nun auf den Weg machte, um selbst zu sehen,
wie es im Zuhause des Lazarus stand.

Vielleicht hat er sich auf dem ganzen Wege noch
an die Hoffnung geklammert, dass alles ein Irrtum sein könnte
und Lazarus noch am Leben wäre.
Vielleicht musste er erst alle weinen sehen,
bevor er begriff, dass Lazarus wirklich tot war.

Da muss für ihn eine Welt zusammengebrochen sein.
Da ist verständlich, wenn er zutiefst erschüttert war
und in Tränen ausgebrochen ist.

Und vielleicht hat er unverschämtes Glück gehabt,
dass viele der Umstehenden nicht ahnten,
was die Ursache dieser Tränen war;
dass sie meinten: „Wie hat er ihn lieb gehabt!“

Hätten die Umstehenden davon gewusst,
dass eine Prophezeiung Jesu sich als falsch herausgestellt hatte,
dann hätten sie sich womöglich an etwas erinnert,
was in ihrem „Gesetz“ zu lesen ist:
„Doch ein Prophet, der sich anmaßt,
in meinem Namen ein Wort zu verkünden
dessen Verkündigung ich ihm nicht aufgetragen habe, ...
ein solcher Prophet soll sterben.
Und wenn du denkst:
Woran können wir ein Wort erkennen,
das der Herr nicht gesprochen hat?,
dann sollst du wissen:
Wenn ein Prophet im Namen des Herrn spricht
und sein Wort sich nicht erfüllt und nicht eintrifft,
dann ist es ein Wort, das nicht der Herr gesprochen hat.
Der Prophet hat sich nur angemaßt, es zu sprechen.
Du sollst dich dadurch nicht aus der Fassung bringen lassen.“
      (Deuteronomium = 5. Mose 18,20–22)

Das hätte Lebensgefahr für Jesus bedeuten können.

Und wenn in der Gruppe um Jesus Zweifel aufkamen,
ob seine Botschaft tatsächlich Gottes Botschaft war,
dann hätte das den Zusammenhalt der Gruppe erschüttern können;
Anhänger hätten sich abwenden können,
womöglich wäre die ganze Gruppe auseinandergefallen.

So hätten alle, die am Fortbestand der Gruppe interessiert waren –
zu Lebzeiten Jesu und auch in der frühen Christenheit –
ein Motiv gehabt,
der Geschichte eine Wendung zu geben,
durch die der Tod des Lazarus
ungeschehen gemacht worden wäre:
durch die Auferweckung des Lazarus von den Toten.

So sehe ich nicht nur eine Reihe plausibler Erklärungen
für die Vorgänge innerhalb der Geschichte,
sondern dazu noch eine plausible Erklärung dafür,
wie das Element einer Auferstehung von den Toten
in die Geschichte hineingekommen sein könnte.

Nachträglich zu einer fertigen Geschichte hinzugefügt
wirkt die Auferweckung des Toten schon;
denn dadurch verlieren manche Aspekte an Plausibilität.

Trotzdem will ich nicht so weit gehen zu behaupten,
dass die Geschichte im Evangelium
einen historischen Kern der beschriebenen Art hätte.
Also, bevor irgend jemand meint, mir das ankreiden zu können,
erkläre ich hiermit,
dass ich selbst in meiner Version weiter nichts sehe
als eine zwar verführerische  (und vielleicht unterhaltsame),
aber doch in keiner Weise wissenschaftlich abgesicherte Spekulation.

Tatsächlich für möglich halte ich allerdings,
dass Jesus bestimmten Personen prophezeit haben könnte,
dass sie nicht sterben würden, bevor das Reich Gottes käme.
Und tatsächlich für möglich halte ich,
dass es nach dem Tode dieser Personen
zu Zweifeln und Unruhe in der Gruppe um Jesus
und/oder in der frühen Christenheit gekommen sein könnte.

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URL: http://irenenickelreligionskritik.beepworld.de/gedankensplitter.htm


   

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