Angeblich „die beste aller möglichen Welten“
Das ist eine kühne Behauptung, die der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz da aufgestellt hat: Diese Welt, mit all ihrem Leid und Schmerz, soll „die beste aller möglichen Welten“ sein?
Leibniz jedoch meinte, anders wäre es gar nicht möglich:
• Gottes unendliche Weisheit lasse ihn die beste unter allen möglichen Welten herausfinden,
• seine unendliche Güte lasse ihn diese beste Welt auswählen,
• und seine Allmacht lasse ihn diese beste Welt hervorbringen.
Logischerweise müsse die Welt, die Gott hervorgebracht hat – also die tatsächlich existierende Welt – „die beste aller möglichen Welten“ sein.
Nun, wenn die tatsächlich existierende Welt wirklich die beste aller möglichen Welten wäre, dann wäre es eine Erklärung dafür, dass ein allmächtiger und sehr gütiger Gott sich entschieden haben könnte, gerade diese Welt zu schaffen und keine andere. Dann wäre das Theodizee-Problem gelöst.
Es fehlte nur noch die Begründung, warum wir die tatsächlich existierende Welt – mit all ihrem Elend – für „die beste aller möglichen Welten“ halten sollten.
Gottes angebliche Weisheit, Güte und Allmacht
reichen da als Begründung nicht aus:
Wenn man Weisheit, Güte und Allmacht Gottes benutzt,
um daraus auf die beste Welt zu schließen,
und anschließend die beste Welt benutzt,
um daraus auf die Möglichkeit
von Weisheit, Güte und Allmacht Gottes zu schließen,
dann bekommt man am Ende nur etwas von dem wieder heraus,
was man am Anfang hineingesteckt hat.
So ein „Zirkelschluss“ beweist überhaupt nichts.
Das heißt:
Wenn man die Behauptung,
dass die tatsächliche Welt „die beste aller möglichen Welten“ sei,
benutzen will,
um auf die Möglichkeit von Weisheit, Güte und Allmacht Gottes zu schließen,
dann braucht man andere Begründungen für diese Behauptung.
Tatsächlich haben Leibniz und andere Philosophen und Theologen
eifrig nach Begründungen gesucht, warum man unsere Welt
für „die beste aller möglichen Welten“ halten könnte.
Dabei kam eine stattliche Sammlung von Argumenten zusammen.
Das kleinere Übel
Lebewesen leiden unter Hunger und Durst, unter Schmerzen und unter Angst vor dem Tode – dafür glaubten Leibniz und andere eine Erklärung zu haben: All das sei notwendig, um das Verhalten der Lebewesen in die richtigen Bahnen zu lenken. Um sie zu motivieren, sich ausreichend mit Nahrung und Wasser zu versorgen, sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben und Verletzungen und Krankheiten zu behandeln. Das diene dem Schutze der Lebewesen vor ernsten Gesundheitsschäden und vor einem vorzeitigen Tod. Im Vergleich dazu seien Hunger und Durst, Schmerz und Angst das kleinere Übel.
Tatsächlich haben Hunger und Durst und Schmerz und Angst in vielen Fällen die Funktion, die Überlebenschancen zu verbessern. Das erklärt ihr Vorkommen bei Lebewesen, deren Evolution auf blindem Zufall (Mutationen) und auf einer unbarmherzigen Selektion beruht. Es erklärt Hunger und Durst und Schmerz und Angst in einer Welt ohne Gott.
In einer Welt ohne Gott ist es kein Grund zur Verwunderung, dass all die unangenehmen Gefühle auch da vorkommen, wo sie keine Funktion für das Überleben haben. Von der Evolution kann man keine Designer-Lebewesen erwarten, die perfekt an die Bedingungen ihrer Lebenswelt angepasst wären. Evolution kann immer nur aus den genetischen Möglichkeiten auswählen, die durch zufällige Mutationen entstanden sind. Bei dieser Auswahl kommt es nicht auf den Einzelfall an. Es können Eigenschaften ausgewählt werden, die in bestimmten Fällen ohne Wirkung auf das Überleben sind oder sogar von Nachteil – wenn nur insgesamt gesehen die Vorteile überwiegen.
In einer Welt, für die sich ein allmächtiger und gütiger Gott entschieden haben soll, ist jedoch in jedem Einzelfall die Frage: Wozu sollte das gut sein?
• Was nützt quälender Hunger, wenn es nichts zu essen gibt?
• Was nützt quälender Schmerz, wenn es keine Heilung gibt?
• Was nützt der Schmerz, der niemandem zur Warnung dienen kann, weil er nicht durch Fehlverhalten entstand?
• Was nützt der Schmerz, der durch erwünschtes Verhalten entstand, z. B. durch den Versuch, einen anderen Menschen zu retten?
Ein kleineres Übel kann gerechtfertigt sein, wenn es vor einem größeren Übel bewahrt – nicht jedoch, wenn es nicht davor bewahrt.
Außerdem ist ein Übel, auch ein kleineres Übel, nur dann gerechtfertigt, wenn es keine bessere Möglichkeit gibt. Hätte ein allmächtiger Gott nicht auf angenehmere Weise dafür sorgen können, dass Lebewesen sich richtig verhalten? Bei einigen Verhaltensweisen funktioniert das doch:
• Lebewesen atmen ganz von selbst,
sie brauchen dazu keine Angst vorm Ersticken.
• Lebewesen zeugen und empfangen aus Freude am Geschlechtsverkehr,
sie brauchen dazu keine Angst vor Kinderlosigkeit.
Die Notwendigkeit der Erhaltung von Leben und Gesundheit liefert also keineswegs in jedem Fall eine befriedigende Erklärung, warum ein gütiger Gott sich dafür entschieden haben könnte, dass Lebewesen leiden müssen.
Hängt alles zusammen?
Hätte ein allmächtiger und gütiger Gott nicht eine Welt ohne Leiden erschaffen können? Dazu erklärte Gottfried Wilhelm Leibniz:
„Was ich bestreite, ist, dass sie dann besser wäre.“
Er meinte, dass in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung stehe. Deshalb könnte man Übel wie Hunger oder Schmerz „nicht ausmerzen [...], ohne zu viel größeren Nachteilen zu gelangen.“
Wirklich? Steht wirklich alles in einer so engen Verbindung? Was sollte es denn schaden, wenn ein Kranker weniger Schmerzen hätte?
Ist nicht etwas daran, wenn Tewje, der Milchmann aus Anatevka, seinen Gott fragt:
„Wenn ich ein reicher Mann wäre ...
würde das deinen großen und ewigen Plänen
denn so sehr in die Quere kommen?“
(englisch:
“If I were a rich man ...
Would it spoil some vast eternal plan –
If I were a wealthy man?”)
Gerechtigkeit
Leiden sei eine „gerechte und wohlverdiente Strafe Gottes“ – mit dieser Behauptung haben Gläubige seit alters her versucht, menschliches Leiden zu erklären. Der Gedanke findet sich schon im Alten Testament, im Buch Hiob (auch Ijob oder Job genannt).
Dies erklärt jedoch nicht, warum auch Unschuldige leiden.
Im Alten Testament besteht der leidende Hiob darauf,
dass er unschuldig sei.
Unschuldig sind auf jeden Fall die Menschen,
die von Geburt an unter heftigen Schmerzen leiden.
Dass Unschuldige leiden, das ist auf keinen Fall
eine „gerechte Strafe“ – im Gegenteil, es ist höchst ungerecht.
So führt der Versuch, menschliche Leiden
durch die „Gerechtigkeit Gottes“ zu erklären,
nur zu neuen Fragen.
Er führt zu einer Variante des Theodizee-Problems:
Wenn Gott allmächtig und gerecht ist –
warum müssen dann so viele Unschuldige so viel leiden?
Im Buch Hiob kommt ein gewisser Elifas von Teman zu Wort, der seinem leidenden Freund Hiob vorhalten zu dürfen glaubte: „Bedenk doch! Wer geht ohne Schuld zugrunde? Wo werden Redliche im Stich gelassen? Wohin ich schaue: Wer Unrecht pflügt, wer Unheil sät, der erntet es auch. Durch Gottes Atem gehen sie zugrunde, sie schwinden hin im Hauch seines Zornes.“ (Kapitel 4 Vers 7-9) Dieser Elifas versteigt sich schließlich zu allerlei aus der Luft gegriffenen Vorwürfen: „Ist nicht groß deine Bosheit, ohne Ende dein Verschulden? Du pfändest ohne Grund deine Brüder, ziehst Nackten ihre Kleider aus. Den Durstigen tränkst du nicht mit Wasser, dem Hungernden versagst du das Brot. ...“ (Kapitel 22, Vers 5 ff)
Hier zeigt sich eine sehr unerfreuliche Nebenwirkung des Dogmas vom Leiden als „gerechter Strafe“:
Menschen, denen es schon schlecht genug geht,
sehen sich zu allem Überfluss mit der Anschuldigung konfrontiert, sie müssten irgendetwas besonders Schlimmes getan haben, um diese „Strafe“ zu verdienen.
Bart D. Ehrman, Professor für Neues Testament,
sieht hier ein doppeltes Problem:
dass die Vorstellung von Leiden als Strafe Gottes
„sowohl falsche Sicherheit als auch falsche Schuld erzeugt.
Wenn Strafe durch die Sünde kommt,
und ich kein bisschen leide, danke sehr,
macht mich das gerecht?
Gerechter als meinen Nachbarn, der seinen Job verloren hat,
oder dessen Kind bei einem Unfall getötet wurde,
oder dessen Frau brutal vergewaltigt und ermordet wurde?
Andererseits, wenn ich schwerem Leiden unterworfen bin,
liegt es wirklich daran, dass Gott mich straft?
Ist es wirklich meine Schuld,
wenn mein Kind mit einer Behinderung geboren wird?
Wenn die Wirtschaft abstürzt
und ich kein Essen mehr auf den Tisch bringen kann?
Wenn ich Krebs bekomme?“
(God’s Problem. How the Bible Fails to Answer
Our Most Important Question – Why We Suffer, S. 55,
Übersetzung von Irene Nickel)
Gegenseitige Hilfe
Leiden lasse viel Gutes entstehen, haben Gläubige argumentiert. Menschen würden einander helfen. Mitgefühl, Nächstenliebe und Solidarität würden zutage treten. Die guten Charaktereigenschaften, die sich so entwickeln und bewähren könnten, und die zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich so verbessern könnten – wäre all das nicht viel wertvoller als die Freiheit von Leiden?
Nanu! Wird Leiden dadurch zu einer guten Sache? Müssten wir uns dann am Ende noch bei denen bedanken, die anderen Menschen Leiden zugefügt haben? Eine verkehrte Welt.
Eigentlich ist es sonnenklar: Es ist nicht gut, wenn Menschen unter Krieg und Verfolgung leiden, es ist nicht gut, wenn sie von unerträglichen Schmerzen geplagt werden, von Atemnot, Erbrechen oder Durchfällen, oder von quälenden Depressionen.
Trotzdem scheint es Menschen zu geben, die das allein nicht überzeugend finden; ihrer Meinung nach müsste eine etwas „philosophischere“ Begründung her.
Die kann gegeben werden:
Für wen sollte schweres Leiden denn zu einer guten Sache werden?
Für viele Leidende wird es das nicht. Manch einer leidet, ohne dass jemand hilft, ohne dass jemand Mitgefühl zeigt, ja ohne dass auch nur jemand davon weiß. Manch ein Leidender legt keinen Wert auf das Mitgefühl und die Zuwendung von Menschen, denen er gleichgültig wäre, wenn es ihm besser ginge. Manch ein Kranker oder Behinderter kennt keinen sehnlicheren Wunsch als den, sich selber helfen zu können und nicht auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen zu sein. Schließlich gibt es Menschen, die unter so heftigen Schmerzen leiden, dass sie sich an nichts mehr recht freuen können, auch nicht am aufrichtigsten Mitgefühl, an der schönsten Solidarität und an den liebevollsten zwischenmenschlichen Beziehungen.
Und die Menschen, die Mitgefühl, Nächstenliebe und Solidarität zeigen können, gute Charaktereigenschaften entwickeln und liebevolle zwischenmenschliche Beziehungen? Wenn diese Menschen es gut finden würden, dass all das mit schweren Leiden eines anderen Menschen erkauft wird – dann würden sie einem Irrtum aufsitzen. Denn all das Gute, das aus dem Leiden entstehen sollte, wäre dann ja gar nicht vorhanden: Kein mitfühlender Mensch würde es gut finden, davon zu profitieren, dass ein anderer Mensch von schwerem Leiden gequält wird. Kein solidarischer Mensch würde es gut finden, kein Mensch von gutem Charakter, kein Mensch, der eine liebevolle Beziehung zum Leidenden hätte.
Wer sonst könnte es gut finden? Niemand, dem am Wohlergehen von Menschen gelegen wäre. Da könnte er noch so viel Freude haben an menschlichem Mitgefühl, an menschlicher Solidarität und an guten menschlichen Beziehungen. Er würde diese Freude nicht damit erkaufen wollen, dass jemand anders dafür leiden muss. Dann wäre es keine Freude mehr – weder für einen mitfühlenden Menschen noch für einen gütigen Gott.
Wie kommen eigentlich intelligente Menschen auf die Idee, Leiden zu einer letztlich guten Sache zu erklären? Die Ursache liegt in dem Streben, einen Glauben zu rechtfertigen, nach dessen Dogmen alles, was existiert, letztlich gut sein muss; denn das müsste es, wenn es von einem gütigen Gott gewollt und kraft seiner Allmacht so herbeigeführt worden wäre.
Ein solcher Glaube kann offensichtlich dazu führen, dass Menschen nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden können.
Reife
Leiden habe einen guten Sinn darin, dass es Menschen reifer werden lasse, haben Gläubige argumentiert. Beliebt ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich:
„Man kann sich ‚Gott’ als Vater/Mutter vorstellen und durchaus nach denselben Kriterien beurteilen wie menschliche Eltern. Ein guter Vater, der will, daß sein Nachwuchs zu seinem Ebenbild (bzw. einem vollwertigen Menschen oder einer vollwertigen Seele) wird, wird ihn lernen lassen – inklusive schmerzhafter Erfahrungen. ... Wer seinen Nachwuchs stets ängstlich von allen Gefahren abschirmt oder sie immer bloß verwöhnt, bekommt unselbstständige, egoistische, undankbare Kinder – kurz verzogene Gören, die dann ihrem Glück nicht selten selbst im Wege stehen.“
Dieser Vergleich wird von „Jay Ray“ im Philosophie-Forum vorgestellt
(Link verlorengegangen).
Ein Vergleich, der gerade da hinkt, wo er etwas zeigen soll. Gute Eltern lassen ihre Kinder gelegentlich schmerzhafte Erfahrungen machen – aber innerhalb vernünftiger Grenzen. Wo Lebensgefahr droht oder die Gefahr erheblicher Gesundheitsschäden, da tun gute Eltern das Ihre, um ihre Kinder zu schützen. Um ihre Kinder vor genau den Leiden zu bewahren, die Zweifel begründen, ob ein gütiger Gott so etwas wollen könnte. Der Vergleich mit dem Verhalten guter Eltern geht gerade an den Fällen vorbei, die das Theodizee-Problem so schwierig machen für die Gläubigen.
Nicht nur Eltern versuchen, Menschen vor Leiden zu bewahren. Größere Gemeinschaften verfolgen das gleiche Ziel, indem sie Gesetze schaffen, die Mord, Körperverletzung und andere Gewalttaten verbieten und unter Strafe stellen, und indem sie Polizisten, Staatsanwälte und Richter beauftragen, die Gesetze durchzusetzen und Verstöße gegen diese Gesetze zu bestrafen. Wir sind überzeugt, dass wir Mörder und andere Gewalttäter bestrafen dürfen, weil wir überzeugt sind, dass es schlecht ist, wenn Gewalttäter anderen Menschen Leiden zufügen oder Mörder ihnen das Leben nehmen. Dass es etwas Gutes sein könnte, weil Menschen durch Leiden oder Trauer reifer werden könnten, auf die Idee kommt normalerweise kein Mensch. Normalerweise würde jeder das als absurd zurückweisen. So normal denken einige Menschen aber dann nicht, wenn es gilt, ein religiöses Dogma zu verteidigen.
Gläubige könnten einwenden, der menschliche Täter wisse ja nicht, in welchen Fällen der Schaden durch das Leiden größer ist und in welchen Fällen der Nutzen durch das Reiferwerden und/oder durch die zwischenmenschliche Hilfe. Ein allmächtiger Gott wisse das aber sehr wohl.
Jedes Leiden, das von einem menschlichen Täter verursacht wird, ist – sofern es einen allmächtigen Gott gibt – zugleich ein Leiden, das von diesem allmächtigen Gott zugelassen wird. Ein und dasselbe Leiden kann nicht im einen Fall eine schlechte Sache sein und im anderen Fall eine gute Sache.
Außerdem sieht es nicht so aus, als wenn Leiden vor allem da auftreten würde, wo es positive Auswirkungen gibt: wo Menschen reifer werden, belastbarer, geduldiger und einfühlsamer für andere Menschen. Manchmal können sich solche positiven Auswirkungen nicht entfalten, weil der Leidende stirbt. Und wo es Auswirkungen gibt, sind sie nicht immer positiv. Allzu oft ist das Gegenteil zu beobachten: Es gibt leidende Menschen, die immer wieder schlechte Laune haben und sie an anderen Menschen auslassen. Es gibt leidende Menschen, deren Gedanken in einem fort um ihr eigenes Leiden kreisen, sodass sie kaum noch Interesse aufbringen für das, was in anderen Menschen vorgeht. Es gibt leidende Menschen, die resigniert und kleinmütig, ja apathisch werden. Es gibt Menschen, die unter der Last ihres Leidens zusammenbrechen, die depressiv werden oder abhängig von Alkohol oder Medikamenten, oder die sich gar das Leben nehmen.
Freier Wille
„Gott hat den Menschen weder als Marionette noch als Roboter erschaffen, sondern ihn mit der besonderen Gabe des freien Willens beschenkt“, so schwärmt Landesrabbiner Henry G. Brandt (Saar-Echo vom 10.12.2005). „Die Entscheidung über Tun und Nichtstun ist ihm überlassen, unter der Voraussetzung, dass die daraus sich ergebenden Folgen zu tragen sind.“
„Nur zu oft von anderen!“, möchte ich da hinzufügen.
Gilt diesem Gott der freie Wille des Mörders, der morden will, mehr als der freie Wille des Opfers, das leben will?!
Bei aller Abneigung gegen die Idee, Gott könnte den menschlichen Willen manipulieren und so den Menschen zur Marionette machen – für einen allmächtigen Gott wäre das kein Grund, potentiellen Opfern seinen Schutz zu versagen. Ein allmächtiger Gott bräuchte dazu nicht in den Willen des potentiellen Täters einzugreifen. Er könnte ihn von außen daran hindern, seine Tat durchzuführen. Wie wir ja auch von unserer Polizei erwarten, dass sie potentielle Opfer schützt, wenn sie Gelegenheit dazu bekommt. Wir wären äußerst befremdet, würde die Polizei stattdessen den „freien Willen“ des potentiellen Mörders respektieren und den Mord geschehen lassen. „Gütig“ würden wir so ein Verhalten gewiss nicht nennen.
Auf den „freien Willen“ verweisen Gläubige auch da, wo Dinge geschehen, die niemand gewollt hat. So schreibt die Landesbischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Frau Dr. Margot Käßmann: „Wir als Menschen freuen uns über den freien Willen ... Aber dann müssen wir auch Verantwortung übernehmen für unser eigenes Tun, für ungerechte Strukturen, für Krieg und Ungerechtigkeit. Auch dafür, dass in Erdbebengebieten unsicher gebaut wird und die Kräfte der Natur unterschätzt werden.“ (Saar-Echo Disclaimer vom 30.11.2005).
Richtig, auch da tragen wir Verantwortung. Nur, was haben die Erdbeben mit dem freien Willen zu tun? Wäre unser Wille weniger frei, wenn es keine gefährlichen Erdbeben gäbe? Wäre er nicht sogar noch freier, wenn wir mehr Möglichkeiten hätten, genau das zu erreichen, was wir wollen? Wenn wir nicht bei jeder Entscheidung irgendwelche Dinge in Kauf nehmen müssten, die wir eigentlich nicht wollen? Einsturzgefahr bei Billigbauten in Erdbebengebieten, hohe Kosten bei Bauten mit größerer Erdbebensicherheit, Arbeitslosigkeit und Not bei Verlassen der Erdbebengebiete ...
Verantwortung
„Dieses Prinzip der Verantwortung ist den Evangelischen immens wichtig“, fährt Frau Dr. Käßmann fort.
Ja, und es scheint, als wolle Frau Dr. Käßmann sehr viele Menschen in diese Verantwortung einschließen. Sie schließt sich selbst mit ein, wenn sie davon spricht, dass „wir“ Verantwortung übernehmen sollten für unsichere Bauten in Erdbebengebieten. Wieso eigentlich? Hat die Bischöfin persönlich solche Bauten errichtet oder in Auftrag gegeben? Vermutlich meint sie es anders. Vermutlich denkt sie an die „ungerechten Strukturen“, in denen arme Menschen genötigt sind, Billigbauten in Erdbebengebieten zu bewohnen. Vermutlich meint sie, dafür wäre fast jeder Mensch irgendwie mitverantwortlich; wer könnte schon von sich sagen, er hätte genug dagegen getan?
Mit einer solchen Argumentation kann man es schaffen, fast jeden Menschen für fast alles Unglück dieser Welt verantwortlich zu machen. Ob es gut ist, so etwas zu predigen – oder ob man damit nur den Unterschied zwischen Tätern und Unbeteiligten verwischt und obendrein vielen gutwilligen Menschen unnötigen Kummer bereitet – das ist ein anderes Thema.
Warum ist „dieses Prinzip der Verantwortung“ denn den Evangelischen so „immens wichtig?“ – Eine mögliche Erklärung wäre: Je tiefer die Unzufriedenheit mit dem eigenen Verhalten, um so einleuchtender die Vorstellung, man bedürfe der Vergebung und Erlösung, wie sie die christliche Botschaft verspricht. Damit wäre erklärt, was „dieses Prinzip der Verantwortung“ für den christlichen Glauben als ganzen bedeuten kann.
Was es jedoch mit dem Theodizee-Problem zu tun haben könnte, das spricht die Bischöfin nicht so unumwunden aus wie andere Gläubige.
Einen Zusammenhang zwischen Theodizee-Problem und menschlicher Verantwortung stellt Herr Oliver Nemitz folgendermaßen her: „Ohne jemandem zu Nahe treten zu wollen, denke ich, dass wir durch solche Fragen die Verantwortung für manches Leid auf Gott schieben wollen, die wir eigentlich selbst zu tragen haben.“ Einige Beispiele, wie Menschen Leid verursachen, kommentiert Herr Nemitz: „... aber Gott ist dafür nicht verantwortlich. Menschen begehen solche Taten und nur Menschen tragen auch die Verantwortung dafür.“
(http://www.olivernemitz.de/Religion/Leid.htm Disclaimer)
„Entweder – oder“, scheint Herr Nemitz zu meinen.
Entweder könnte Gott verantwortlich gemacht werden,
dann wären die Menschen nicht verantwortlich.
Oder die Menschen wären verantwortlich,
und dann wäre Gott nicht verantwortlich.
Eine solche Entweder-oder-Logik ist nicht zwingend. Im Alltagsleben gibt es Gegenbeispiele. Wenn ein Kaufhausdetektiv nachlässig arbeitet und infolgedessen die Ladendiebstähle sich häufen, dann würde es ihm wenig helfen zu erklären: „Verantwortlich für die Diebstähle sind doch die Diebe!“ Sein Chef würde ihn vermutlich auslachen. Erst recht würde es einem Dieb nicht helfen zu erklären: „Verantwortlich für meine wiederholten Diebstähle ist der Kaufhausdetektiv! Er hätte mich doch gleich beim ersten Versuch ertappen können!“ Es hilft wenig, auf die Verantwortung eines anderen hinzuweisen; seine Verantwortung schließt die eigene Verantwortung nicht aus.
Ähnliches lässt sich sagen, wenn nach Unglücksfällen versucht wird, die Verantwortung von Menschen und die Verantwortung eines allmächtigen Gottes gegeneinander auszuspielen. Zum Beispiel, wenn bei einem Erdbeben Billigbauten eingestürzt sind und schwere Verletzungen und Todesfälle verursacht haben. Dann könnten beide Seiten Verantwortung tragen: Die Menschen, die gewusst hätten, dass dort mit heftigen Erdbeben zu rechnen ist, und die trotzdem aus Geiz oder Leichtsinn dort Billigbauten errichtet hätten – und ein allmächtiger Gott, der gewusst hätte, dass die Billigbauten bei heftigen Erdbeben einstürzen würden, und der dennoch keinen Gebrauch von seiner Allmacht gemacht hätte, um die heftigen Erdbeben zu verhindern.
Zwischenergebnis:
Die Verantwortung von Menschen
schließt die Verantwortung eines allmächtigen Gottes nicht aus.
Die Verantwortung eines allmächtigen Gottes
schließt die Verantwortung von Menschen nicht aus.
Das bedeutet für die Verantwortung Gottes:
Mit Hinweisen auf die Verantwortung von Menschen kann man vielleicht von der Verantwortung eines allmächtigen Gottes ablenken. Man kann damit vielleicht vom Theodizee-Problem ablenken. Lösen kann man es auf diese Weise nicht.
Einen Grund dafür hat auch Herr Nemitz erkannt; er schreibt: „Die bisherigen Ausführungen beantworten die Frage nach dem Leid aber nur teilweise, denn es gibt auch Leid, für das die Menschen nicht verantwortlich sind, z.B. bei Naturkatastrophen.“ Jedoch auch in Fällen, in denen Menschen verantwortlich sind, würde ein allmächtiger Gott Verantwortung tragen. Das folgt aus der Definition der Allmacht: Ein allmächtiger Gott könnte bewirken, geschehen lassen oder verhindern, was auch immer er will. Damit wäre ein allmächtiger Gott verantwortlich für alles, was er bewirkt, was er geschehen lässt und was er verhindert. Er wäre verantwortlich für alles, was geschieht.
Einige Autoren des Alten Testaments scheinen das sehr klar gesehen zu haben. In Jesaja 45, 6-7 werden Gott die Worte in den Mund gelegt: „Ich bin der HERR – und sonst keiner –, der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der Frieden wirkt und das Unheil schafft. Ich, der HERR, bin es, der das alles wirkt.“ Und in Amos 3, 6 heißt es: „Geschieht etwa ein Unglück in der Stadt, und der HERR hat es nicht bewirkt?“ Diese Worte aus alter Zeit könnten manch einem Christen von heute zur Warnung dienen, das Theodizee-Problem nicht zu unterschätzen.
Das bedeutet für die Verantwortung von Menschen:
Um ihre eigene Verantwortung ginge es denen, die die Theodizee-Frage aufwerfen, behauptete Herr Oliver Nemitz: „... denke ich, dass wir durch solche Fragen die Verantwortung für manches Leid auf Gott schieben wollen, die wir eigentlich selbst zu tragen haben.“
Auf eine unbequeme Fragen reagiert Herr Nemitz mit der Unterstellung unlauterer Motive. Das ist nichts als ein rhetorischer Trick: ein Versuch, mit dem Fragenden auch die Frage in ein ungünstiges Licht zu rücken. Bei Licht betrachtet sagen die Motive des Fragenden herzlich wenig darüber aus, ob eine Frage berechtigt ist oder nicht.
Trotzdem sei näher untersucht, was es mit dem von Herrn Nemitz unterstellten Motiv auf sich hat.
Herr Nemitz kritisiert schon die Aussage, dass Gott Verantwortung trage für das Leid, das von Menschen herbeigeführt wurde. Aber stammt diese Aussage von denen, die das Theodizee-Problem aufwerfen? Sieht man genauer hin, dann stellt man fest: Die Aussage „Gott trägt Verantwortung für alles, was geschieht“ ist nur die logische Schlussfolgerung aus der Aussage „Gott ist allmächtig“; ob Herr Nemitz das nun zugibt oder nicht. Ursprünglich stammt die Aussage „Gott trägt Verantwortung für alles, was geschieht“ also von denen, die einen allmächtigen Gott verkünden. Diejenigen, die das Theodizee-Problem aufwerfen, weisen lediglich auf diese Verantwortung hin. Das mag einigen Gläubigen missfallen. Aber wenn sie die kritisieren, die darauf hinweisen, gleichen sie Menschen, die einen Spiegel dafür kritisieren, dass er kein schöneres Spiegelbild zeigt.
Wenn man von der eigenen Verantwortung ablenken will, dann hat man vielleicht ein Motiv, auf die Verantwortung Gottes für alles Geschehen hinzuweisen. Aber hat man dann auch ein Motiv, die Theodizee-Frage zu stellen? Hat man dann auch ein Motiv, sich mit dieser Frage ernsthaft und ergebnisoffen auseinanderzusetzen?
Eher nicht. Ergebnisoffen darüber nachzudenken bedeutet, auch den Zweifel zuzulassen,
ob die Lehre vom allmächtigen und sehr gütigen Gott denn wahr ist.
Ob es wirklich einen allmächtigen und sehr gütigen Gott gibt; vielleicht sogar, ob es überhaupt einen Gott gibt.
So riskiert man, am Ende ohne einen Gott dazustehen, den man verantwortlich machen könnte.
Wer das riskiert, tut es bestimmt nicht, um seine Verantwortung auf Gott zu schieben. Im Gegenteil, das riskiert nur, wer den Mut hat, seine Verantwortung selbst zu tragen.
Wer hingegen seine Verantwortung nicht selbst tragen will und sie lieber ganz auf Gott schieben will – wer die Verantwortung guten Gewissens allein Gott überlassen will – der braucht einen Gott, der dieser Verantwortung gerecht würde. Den könnte er finden in jenem allmächtigen und sehr gütigen Gott, der, nach Ansicht des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz, gewiss dafür sorgen würde, dass diese Welt nur die „beste aller möglichen Welten“ sein kann.
Gerade wer die Verantwortung allein Gott überlassen will, hätte ein Motiv, am Glauben an einen allmächtigen und sehr gütigen Gott unbeirrbar festzuhalten. Ein Motiv, diesen Glauben nicht durch eine ergebnisoffene Beschäftigung mit dem Theodizee-Problem zu gefährden.
„Ja, gibt es denn so was?!“, könnte jetzt jemand erstaunt fragen. „Gibt es wirklich Menschen, die im Ernst meinen, sie könnten die ganze Verantwortung Gott überlassen und bräuchten sich für nichts mehr verantwortlich zu fühlen?“
So etwas gibt es. Sogar dann, wenn es um die folgenreichsten Entscheidungen geht; wie um die Entscheidung über einen Atomkrieg, der die gesamte Menschheit vernichten könnte. Dazu schrieb kein Geringerer als der Jesuit Gustav Gundlach, Professor (und zeitweilig Rektor) der päpstlichen Gregoriana in Rom: „... wir haben erstens sichere Gewissheit, dass die Welt nicht ewig dauert, und zweitens haben wir nicht die Verantwortung für das Ende der Welt. Wir können dann sagen, dass Gott der Herr, der uns durch seine Vorsehung in eine solche Situation hineingeführt hat oder hineinkommen ließ, wo wir dieses Treuebekenntnis zu einer Ordnung ablegen müssen, dann auch die Verantwortung übernimmt.“ (zitiert nach Karlheinz Deschner, Abermals krähte der Hahn, Seite 656 im Taschenbuch von Moewig)
So wenig sind sich einige gläubige Menschen ihrer Verantwortung bewusst für die Folgen ihrer Entscheidungen. Das ist erschreckend. Und es kann gefährlich werden, wenn Menschen mit einer solchen Einstellung die Macht in die Hände bekommen, über Leben und Tod ihrer Mitmenschen zu entscheiden.
Dabei sind diese Menschen nicht einfach Asoziale, denen es gleichgültig ist, wie es ihren Mitmenschen ergeht. Gustav Gundlach SJ hat sich viele Gedanken darüber gemacht, wie Menschen sich verhalten sollten; u. a. hat er während der 30er Jahre wesentlich an einer nie veröffentlichten Enzyklika Pius XI. gegen Rassismus und Antisemitismus mitgearbeitet
(http://www.perlentaucher.de/buch/7059.html Disclaimer). Die Einstellung, Menschen wären unter Umständen nicht verantwortlich, wenn sie die Vernichtung der Menschheit herbeiführten, beruht keineswegs auf einem schlichten Charakterfehler. Sie beruht auf einem bestimmten Glauben: auf dem Glauben an einen allmächtigen und sehr gütigen Gott.
Der Teufel
„Wir Christen habens uns doch leicht gemacht, um mit Gott nicht hadern zu müssen: Alles Gute kommt von Gott - für das Schlechte wird der Teufel verantwortlich gemacht.....“, schrieb „schorsch“
(http://www.seniorentreff.de/diskussion/threads8/thread427.php Disclaimer).
Wenn das ein Versuch zur Lösung des Theodizee-Problems sein soll, müsste die Frage beantwortet werden:
Könnte Gott verhindern, dass der Teufel Schaden anrichtet,
oder könnte er es nicht?
1. Möglichkeit:
Gott könnte nicht verhindern, dass der Teufel Schaden anrichtet.
Dann wäre Gott nicht allmächtig. Wer sich für diese Möglichkeit entscheidet, der entscheidet sich gegen die Lehre vom allmächtigen und sehr gütigen Gott.
2. Möglichkeit:
Gott könnte verhindern, dass der Teufel Schaden anrichtet.
Dann wäre Gott mitverantwortlich für jeden Schaden, den er nicht verhindert. Dann gilt für den Hinweis auf die angebliche Verantwortung des Teufels das Gleiche wie für Hinweise auf die Verantwortung von Menschen: Sie ändern nichts daran, dass ein allmächtiger Gott verantwortlich wäre für alles, was geschieht.
Für die 2. Möglichkeit hat sich die Römisch-Katholische Kirche entschieden. Im Katechismus der Katholischen Kirche Disclaimer heißt es in Absatz 395: „Satan ist auf der Welt aus Hass gegen Gott ... tätig. Sein Tun bringt schlimme geistige und mittelbar selbst physische Schäden über jeden Menschen und jede Gesellschaft. Und doch wird dieses sein Tun durch die göttliche Vorsehung zugelassen, welche die Geschichte des Menschen und der Welt kraftvoll und milde zugleich lenkt. Dass Gott das Tun des Teufels zulässt, ist ein großes Geheimnis ...“
Den Autoren scheint klar zu sein:
Der Hinweis auf das „Tun des Teufels“
liefert keine Antwort auf die Theodizee-Frage.
Dies „große Geheimnis“ lässt der Katechismus-Absatz ein Geheimnis bleiben. Er lässt einen Bibelspruch folgen: „Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt“ (Brief des Paulus an die Römer 8, 28).
So ein Bibelspruch mag Menschen zufrieden stellen, die alles für bare Münze halten, was in der Bibel steht. Wer kritischer hinsieht, stellt fest: Von „Wissen“ kann keine Rede sein. Was Paulus da verkündet, das ist bestenfalls Glaubenssache. Es darf ebenso angezweifelt werden wie die Theorien des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz, denen zufolge alles letztlich zu etwas Gutem führen würde, zur „besten aller möglichen Welten“.
Ewigkeit
„Da das zeitlich-irdische Leben zwar ein sehr hohes, aber nicht das höchste Gut ist, muss es weder von Gott noch von den Menschen mit allen Mitteln angestrebt werden. Das höchste Ziel bzw. Gut des Menschen ist nach dem christlichen Glauben das ewige Leben .... Wenn nötig, kann Gott dafür auch das physische Übel einsetzen ...“, heißt es in einem „Lösungsansatz“ für das Theodizee-Problem im Artikel „Theodizee“ Disclaimer in Wikipedia, Version vom 28.6.2006. Ähnliche Gedanken finden sich schon in der Bibel; dort sagt Jesus: „Es ist besser für dich, als Krüppel in das Leben hineinzugehen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen, in das unauslöschliche Feuer.“ (Markus 9, 43)
Wenn ein Großinquisitor so argumentieren würde,
um die Folterung eines Ketzers zu „rechtfertigen“,
dann läge darin noch eine gewisse Logik.
Wenn es aber um das Verhalten eines allmächtigen Gottes geht, dann ist eine solche Argumentation einfach Unsinn. Der Denkfehler besteht darin, davon auszugehen, dass die Leiden „nötig“ wären. Ein allmächtiger Gott hätte es aber nicht nötig, deswegen Leiden zuzufügen. Er hätte die Möglichkeit, einem jeden Menschen ein angenehmes ewiges Leben zu verschaffen und ihn vorm Feuer der Hölle zu bewahren.
Das wäre nicht genug, könnte ein gläubiger Mensch erwidern. Es komme auch darauf an, gewisse Voraussetzungen zu erfüllen.
Gewiss kann der Gläubige es für sehr wichtig halten, dass ein Mensch in seinem irdischen Leben gewisse Verhaltensweisen an den Tag legt und/oder gewisse Charakterzüge entwickelt. Dann könnte er versuchen zu begründen, warum diese Verhaltensweisen und/oder Charakterzüge so wichtig sein sollen, dass ihre Herbeiführung selbst schweres Leiden rechtfertigen könnte. Das wäre dann ein anderes Argument. Dabei ginge es um die Verhaltensweisen und/oder Charakterzüge, nicht um das ewige Leben. Denn für einen allmächtigen Gott bestünde keinerlei Notwendigkeit, diese Verhaltensweisen und/oder Charakterzüge zur Voraussetzung für ein angenehmes ewiges Leben zu machen.
Gottes Ruhm
Im Evangelium nach Johannes ist am Anfang des 9. Kapitels zu lesen: „Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“ Danach soll Jesus den Blinden geheilt haben.
Man mag es ja erfreulich finden, dass Jesus hier der Auffassung entgegentrat, das Unglück eines Menschen wäre ein Grund zu der Annahme, dass dieser Mensch gesündigt haben müsste, oder seine Eltern.
Doch bietet Jesu Erklärung keinen Grund zu ungetrübter Freude. Nur damit „das Wirken Gottes offenbar werden“ soll, nur damit Jesus das durch eine Wunderheilung offenbar werden lassen konnte, hätte ein Mensch sein Leben von Geburt an mit einer schweren Behinderung verbringen müssen?! Das könnte das Verhalten eines selbstherrlichen Gottes erklären, dem sein eigener Ruhm über alles ginge. Nicht jedoch das Verhalten eines gütigen Gottes.
Naturgesetze
„Gott ist nicht grausam ... Sondern, wenn ein Unglück passiert, ist es allemal die Eigengesetzlichkeit dieser Schöpfung. Wenn jemand vor das Auto läuft und überfahren wird, ist es kein grausamer Gott, sondern es sind die Naturgesetze. Wer so über die rote Ampel hinwegsieht, dem ist nicht zu helfen. Wunder sind für diese Fälle nicht vorgesehen. Es gibt kein Menschenrecht auf Wunder“, sagte der Heidelberger Dozent für Neues Testament, Klaus Berger (Zwischenspeicher von G o o g l e für http://www.evangelische-kirchenzeitung.de/200213/glaube.htm nach dem Stand vom 29. Apr. 2006 12:16:38 GMT,
Link nicht mehr gefunden.).
Natürlich hätte der Mensch in diesen Fällen keinen Rechtsanspruch darauf, von Gott durch ein Wunder gerettet zu werden.
Aber würde ein gütiges Wesen nach Rechtsansprüchen fragen? Hätte es nicht schon aus Mitleid den Wunsch, Rettung zu bringen, unabhängig von Rechtsansprüchen, als ein freiwilliges Geschenk seiner Güte?
Die Naturgesetze wären für einen allmächtigen Gott kein unüberwindliches Hindernis. Es läge bei ihm, ob er schützend eingreift, oder ob er den Naturgesetzen ihren Lauf lässt und Menschen zu Schaden kommen lässt. Er wäre verantwortlich für die Folgen.
Der allmächtige Gott lenke die Welt „unter voller Respektierung der Naturgesetze“, schreibt der Theologe Hans Küng („24 Thesen zur Gottesfrage“, S. 96f).
Gott „respektiert“ die Naturgesetze, das scheint zu heißen: Er hält sich freiwillig daran, obwohl er auch anders könnte. Als allmächtiger Gott müsste er – logischerweise – auch anders können.
Dann wäre die Frage: Warum will er nicht anders? Warum will er bei den Naturgesetzen nicht mal Fünfe gerade sein lassen, wenn es darum geht, einen Menschen vor schweren Verletzungen zu bewahren? Was kann an den Naturgesetzen denn so wichtig sein?
„In einer chaotischen Welt“ würde „niemand die Konsequenzen seiner Entscheidung absehen“ können, heißt es in einer Antwort auf diese Frage. „Niemand könnte sich in verantwortlicher Weise für oder gegen etwas entscheiden. Gleiches würde für eine Welt gelten, die durch ein permanentes Eingreifen Gottes bestimmt würde.“
(Skript einer Vorlesung von Prof. Armin Kreiner Disclaimer (PDF))
Eine Welt, in der wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen und Handlungen absehen können, hat zweifellos ihre Vorteile. Die Naturgesetze sind uns dabei eine Hilfe.
Aber müssen sie dazu ohne Ausnahme gelten?
Nein. Wir können die Konsequenzen unserer Entscheidungen und Handlungen immer dann absehen, wenn auf ähnliche Verhaltensweisen regelmäßig ähnliche Konsequenzen folgen. Ganz egal, wie diese Regelmäßigkeit zustande kommt: durch Naturgesetze oder dadurch, dass Gott regelmäßig in ähnlicher Weise eingreifen würde.
Ein allmächtiger Gott hätte sogar Möglichkeiten, so unauffällig einzugreifen, dass kein Mensch etwas von einer Verletzung von Naturgesetzen gemerkt hätte. Beispielsweise hätte ein allmächtiger Gott alle HI-Viren unauffällig vernichten können, bevor sich Menschen damit infizierten. Niemand hätte sich über das Ausbleiben von AIDS-Erkrankungen gewundert.
Niemand wäre in seiner Fähigkeit beeinträchtigt worden, die Konsequenzen seines Verhaltens abzusehen. Im Gegenteil: Viele Ärzte hätten die Konsequenzen ihres Handelns besser vorhersehen können, als sie in den frühen 1980er Jahren ihren Patienten Bluttransfusionen gaben:
Das hätte nicht die völlig unvorhersehbare Folge gehabt,
dass einige der Patienten an AIDS erkrankten und bald starben.
Bewertungen
Gott bewerte manches anders als wir Menschen, argumentieren Gläubige.
„... dass das Sein und die Existenz an sich gut sind, auch wenn die Menschen dies oft nicht verstehen. Das impliziert die Überzeugung, dass das bloße Dasein der Welt ein Akt göttlicher Güte uns gegenüber ist“, heißt es in einer Darstellung der Auffassungen des jüdischen Gelehrten Maimonides (1138-1204).
(http://www.hagalil.com/judentum/philosophie/welt.htm Disclaimer)
Das klingt gerade so, als machten die Menschen einen Fehler, wenn sie die Auffassung, dass das Sein und die Existenz „an sich gut“ seien, nicht vorbehaltlos teilen. Wenn sie Fragen stellen wie: Was ist mit den Menschen, denen es so schlecht geht, dass sie nichts mehr herbeisehnen als ein Ende ihrer Existenz im Tode? Wie sollten sie ihre Existenz als „an sich gut“ ansehen? Und wenn nicht – soll man dann etwa sagen, sie hätten irgendetwas nicht richtig verstanden?
Nein. Ob etwas „gut“ ist oder nicht, das lässt sich nicht objektiv und allgemeinverbindlich feststellen. Ob jemand etwas als „gut“ bewertet, das hängt nicht nur von Tatsachen ab – die man objektiv und allgemeinverbindlich feststellen könnte – sondern auch von den Gefühlen, die er den Tatsachen entgegenbringt. Da kann es vorkommen, dass eine Tatsache bei verschiedenen Personen unterschiedliche Gefühle auslöst und infolgedessen unterschiedlich bewertet wird, ohne dass man sagen könnte, dass die eine Person Recht hätte und die andere Unrecht.
Wenn es um die Entscheidung geht, wie es jemandem ergehen soll, wessen Gefühle und Bewertungen sind dann besonders wichtig? Die des Betroffenen, sollte man meinen. Jedes gütige Wesen würde es so sehen. Einem gütigen Wesen läge es fern, die eigenen Vorlieben für das einzig Maßgebliche zu halten und die Gedanken und Gefühle der Betroffenen als unbedeutend abzutun. Ein gütiges Wesen würde sich für die Gedanken und Gefühle der Betroffenen sehr interessieren. Es würde diese Gedanken und Gefühle bei der Bildung seiner eigenen Bewertungen einbeziehen. Es würde sich nicht darüber hinwegsetzen, wenn es nicht einen sehr guten Grund dafür hätte. „Ich bin so großartig, ich bin so klug, ich weiß alles am besten“, das allein wäre kein hinreichender Grund für ein gütiges Wesen.
„... dass wir Menschen unterschätzen, wie hoch Gott die menschliche Freiheit bewertet. Ohne sie wären die Menschen unfähig, Gott zu begegnen, wirkliches Glück in der Gottesliebe zu finden und von Gott geliebt zu werden. Es mag für immer unser Begreifen übersteigen, wie Gott einen solchen Preis für die Freiheit des Menschen, ihn zu lieben, akzeptieren konnte. Doch für den Christen hat dieses Geheimnis ... sein Gegenstück in der Tatsache, dass Gott sich selbst nicht von diesem Leiden ... ausnahm. Da das Wort Gottes Mensch wurde in der Inkarnation, in seinem Leben, seinem Leiden und Tod am Kreuz, bezahlte Gott selbst den äußerst möglichen Preis für die Freiheit des Menschen, Gott zu lieben.“ – Mit diesem Zitat von Schmitz-Moormann schließt ein Aufsatz auf einer Internet-Seite der Mission der Deutschen Dominikaner. (Theodizee: Befreit uns Gott von Übel und Leid?), Link nicht mehr gefunden
Nur am Rande sei hier bemerkt: Es mag noch einleuchten, dass der Mensch für die Freiheit, Gott zu lieben, die Freiheit gebraucht haben könnte, Gott nicht zu lieben. Aber hätte er dafür die Freiheit gebraucht, zu foltern und zu morden?
Thema an dieser Stelle sind Bewertungen. Dazu ist festzuhalten: Selbst wenn Gott einen noch so hohen Preis gezahlt hätte für seine Bewertungen – es hätte seine Bewertungen nicht zu unseren Bewertungen gemacht.
Die Bewertungen und Gefühle der Betroffenen aber sind es,
die einem gütigen Wesen wichtig wären bei seinen Entscheidungen.
Lieber kein Schlaraffenland
„Würde es uns denn in einer Welt gefallen, in der uns alles in den Schoß fiele und alle Hindernisse aus dem Weg geräumt würden?“ –
In diesem Sinne antwortete mir eine Christin, als ich sie in einem Privatbrief auf das Theodizee-Problem ansprach.
Ich glaube auch nicht, dass es uns in einer solchen Welt gefallen würde. Auf die Dauer würden wir uns wohl fürchterlich langweilen.
Auf die Dauer würden wir uns sicherlich wohler fühlen in einer Welt, in der wir uns manchmal abmühen und Hindernisse überwinden müssen, um bestimmte Ziele zu erreichen; um so größer ist am Ende die Freude. Und auf die Dauer würden wir uns sicherlich wohler fühlen, wenn wir uns ab und an einmal ärgern müssen, weil der Erfolg unserer Bemühungen allzu lange auf sich warten lässt oder ganz ausbleibt; um so mehr freuen wir uns, wenn wir doch Erfolg haben.
Aber ist dies eine Lösung des Theodizee-Problems? Könnte ein gütiger Gott deshalb eine Welt so voller Leiden geschaffen haben?
Nein. Eine gewisse Portion an unangenehmen Erfahrungen mag uns einen Gewinn an Lebensfreude bescheren. Wie eine kleine Prise Salz manchen Speisen mehr Wohlgeschmack verleiht. Das heißt aber nicht, dass noch mehr noch besser wäre. Ein Übermaß an Salz verdirbt den Geschmack der Speisen, und ein Übermaß an Leiden verdirbt die Freude am Leben.
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